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Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns

Titel: Vom Wispern der Waelder und vom Wesen des Wanderns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Luehrs
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durch die schmalen Gassen. Im Unterschied zu hier sitzen im Schatten der Hauseingänge alte, schwarzgekleidete Frauen mit Kopftüchern, und in der Taverne am Dorfplatz hocken die alten Männer, spielen Backgammon oder lassen eine Perlenkette immer und immer wieder durch die Hände gleiten. Nur ab und an, wenn eine sommerlich gekleidete, junge Touristin unbekümmert und anmutig über den Platz schreitet, recken sie ihre Hälse und folgen ihr mit den Blicken, sich wehmütig erinnernd an längst vergangene Tage. Und wenn das Kirchglöcklein bimmelt, dann erheben sich plötzlich die Frauen und schlurfen davon, derweil die Männer weiterspielen. Die Zeit scheint stillzustehen an diesem Ort der späten Jahre, so wie sie hier, an diesem Sonntagmittag, auch aufgehört hat zu schlagen und die trostlose Abgeschiedenheit besiegelt.
    Am Ende des Dorfes treffen wir zu unserer Überraschung auf ein kleines Wirtshaus. Mal sehen, ob es geöffnet hat. Die Tür hängt schwer in den Angeln, aber sie bewegt sich und führt direkt in den gähnend leeren, düsteren Schankraum. Der penetrante Geruch unzähliger gerauchter Zigaretten hängt scharf in der Luft, ein Radio dudelt, eine vergilbte Gardine an einem der Fenster bläht sich leicht im Wind, auf einem der Stühle reckt sich eine Katze und fixiert uns. Wir verharren, unschlüssig, ob wir bleiben sollen. Doch dann tritt durch eine Tür hinter dem Tresen ein Geschöpf, das wir hier so nicht erwartet haben, lehnt sich gegenüber an die Thekenwand, verschränkt die Arme unter der Brust, schlägt die Füße übereinander und schaut uns an, ebenso überrascht wie wir ob unserer ungewöhnlichen Erscheinung.
    Eine Frau Ende 40, Anfang 50, schlank und hoch gewachsen mit harten Gesichtszügen und einem herben Gesicht, das früher einmal schön gewesen sein muss. Die kastanienbraunen, mit wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haare sind zu einem in den Nacken fallenden Zopf geflochten. Sie ist leicht geschminkt, die ungewöhnlich blauen Augen wirken desillusioniert. Ihre verblühende Erscheinung hat sie mit einer körperbetonten Bekleidung aufgepeppt, die so gar nicht in dieses verlorene Ambiente passt. Sie trägt hohe Sandaletten mit Stilettabsätzen, die Zehennägel sind rosa angemalt. Eine beige, enge, dreiviertellange Hose bringen ihre langen, schlanken Beine zur Geltung, und ein enggeschnürtes, schwarzes Top schließt kurz über ihrer Brust ab. Weißlackierte, lange, künstliche Fingernägel und goldene Armreifen runden ihre immer noch attraktive Erscheinung ab. Sie weiß darum und man spürt, dass es für sie noch eine Bedeutung hat, von den Männern als Frau wahrgenommen zu werden. Ihr Gesicht, das vom Rauchen und der Arbeit hinterm Tresen gezeichnet ist, sieht uns fragend an.
    Ich bin völlig verdattert und weiß gar nicht, was ich sagen soll. Schließlich ringe ich mir die Frage nach einer Suppe und einem Bier ab, Martin schließt sich an.
    „Mal seh’n. Das Bier könnt ihr haben, mit der Suppe wird’s schon schwieriger“, antwortet sie mit rauer, tiefer Stimme mit slawischem Akzent, zapft das Bier an und verschwindet in der Küche.
    Martin und ich schauen uns an und legen schließlich die Rucksäcke ab. Kurze Zeit später kommt sie mit zwei dampfenden Suppentellern zurück, stellt sie auf den Tresen mit der Bemerkung: „Das ist der Rest von gestern, die geht aufs Haus. Was macht ihr denn hier in dieser gottverlassenen Gegend?“
    Wir erzählen unsere Geschichte, während sie das Bier für uns zapft. Dann schnappt sie sich eine Sektschale, schenkt sich ein, tritt auf uns zu und sagt: „Ich bin die Tatjana!“
    Mein Wanderbruder antwortet: „Das ist schön. Ich bin der Martin. Zum Wohl“, und fährt in der Schilderung unserer Wanderung fort.
    Ich spüre sofort, dass sie das nicht weiter interessiert, dass sie sich lieber mit uns unterhalten möchte. Ich unterbreche Martin, da ich merke, dass er nicht realisiert, dass er ins Leere redet, stelle mich vor, lade sie zu dem Sekt ein und frage, woher sie komme, da mir der Akzent aufgefallen sei. Sie bittet um ein Zigarillo, schwingt sich auf den seitlichen Arm der Theke, schlägt ein Bein über das andere, neigt kokett den Kopf, prostet uns zu und beginnt zu erzählen:
    Vor 19 Jahren sei sie aus Russland hierhergekommen, eines Mannes wegen und wegen eines besseren Lebens. Damals hatte der Gasthof noch Schwung, aber im Laufe der Jahre sei das immer weniger geworden. Sie habe den Mann geheiratet, eine Tochter geboren, die habe auch

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