Von ängstlichen Drachen, halben Mänteln und zahmen Wölfen - die schönsten Heiligenlegenden neu erzählt
zeigte ihm seine schlechten Zähne. Martin hatte keine Lust auf Ärger und antwortete ihm einfach nicht darauf. Stattdessen meinte er:„Komm, Darius, wir sind spät dran, lass uns die Pferde satteln und aufbrechen.“
Kurz darauf flogen sie über die Hälse ihrer Pferde gebeugt über die Felder hinter der Kaserne und nahmen Kurs auf das große Stadttor, das als großer Schatten im Mondlicht vor ihnen lag. Wie Martin es nicht anders erwartet hatte, machte Darius einen Wettstreit aus ihrem Ritt. „Wer zuletzt da ist, muss dem anderen ein Bier bezahlen!“, hatte er gerufen, ehe er sich in den Sattel schwang und seinem Pferd die gespornten Stiefel in die Seite drückte.
Martin war das zu dumm und er fiel schon kurz hinter der Kaserne ein gutes Stück hinter Darius zurück. „Wir sind nicht auf der Flucht“, flüsterte er seinem Pferd ins Ohr, „und ich will nicht, dass du dir völlig ohne Not die Hufe brichst, wenn du bei diesem Schnee ins Rutschen kommst.“ Darius schaute sich jedoch nicht einmal nach ihm um, so unbedingt wollte er Erster am Stadttor sein. Als sie näher zur Stadt kamen, sah er die Fackeln, die den Weg vor dem Stadttor erleuchteten. Und neben einer der Fackeln hockte oder lag irgendetwas. Martin konnte von hier aus aber nicht erkennen, was das wohl war. Darius zog das Tempo noch einmal ordentlich an, als er auf den Weg einschwenkte, der zum Stadttor führte – und hielt im vollen Galopp genau auf dieses Bündel zu. Vielleicht wollte auch er sehen, was das war?
Martin war jetzt näher herangekommen, als sich das Bündel plötzlich bewegte. „Das ist ein Mensch!“, schoss es Martin durch den Kopf. Wohl einer der armen Bettler der Stadt, den der Wintereinbruch völlig überrascht hatte und der versuchte, sich wenigstens an den Fackeln etwas zu wärmen, die den Weg erhellten. Noch immer hielt Darius genau auf sein Ziel zu. Erst als er schon beinahe vor ihm stand, drehte sich der Bettler herum. Starr vor Schreck presste er sich an die Stadtmauer, riss die Augen auf und stieß einen Angstschrei aus. Darius hatte sein Pferd im letztenMoment herumgerissen. Es stieg auf die Hinterläufe und wieherte laut. Als es die Vorderläufe wieder absetzte, landete es mit den Hufen so nah vor den Füßen des Bettlers, dass Martin dachte, es müsse ihm die Zehen zerquetscht haben. „Geh mir aus den Augen, du nichtsnutzige Kreatur! Wärm deine Finger woanders! Ich werde die unbescholtenen Bürger dieser Stadt vor Faulenzern wie dich zu beschützen wissen!“, schrie Darius ihn an und zückte tatsächlich sein Schwert. In diesem Moment war Martin bei ihm angekommen. „Darius, jetzt reicht es!“, brüllte er ihn an. „Geh auf deinen Posten, du bist zur Nachtwache eingeteilt, nicht zum Bettlerkrieg!“
Am Stadttor hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt und schaute neugierig und verängstigt zu, was sich zwischen den Dreien dort abspielte. Darius funkelte Martin böse an. „Das wirst du mir noch büßen, mich hier vor allen Menschen so zu blamieren“, zischte er Martin zu. Dann wendete er sein Pferd und trabte durchs Stadttor. „Kommst du jetzt zum Dienst oder willst du dich wie immer um deine Pflicht drücken? Ich denke, ich sollte ein Wort mit dem Hauptmann sprechen …“, rief er über die Schulter zu Martin.
„Sagt, hat er Euch verletzt?“, fragte Martin den Bettler. „Nein, Herr, ich hatte Glück. Habt vielen Dank, dass Ihr mir geholfen habt!“, antwortete der. Da erst sah Martin, dass der Bettler nur in Lumpen gehüllt war: Er hatte keine Schuhe und sich nur alte Lappen um die Füße gewickelt. Sein Hemd bestand beinahe nur noch aus Löchern und seine Hose sah nicht besser aus.
„Hast du keinen Ort, wo du hingehen kannst, um dich aufzuwärmen?“, fragte Martin ihn. „Bei diesem Schnee wirst du heute Nacht erfrieren, wenn du hier draußen bleibst.“
„Nein, Herr, keinen Ort“, murmelte der Bettler traurig. „Es gibt niemandem, dem ich fehlen würde oder der mir ein Obdach gibt.“
„Martin, wo bleibst du? Es hat schon die Stunde geschlagen, dein Dienst fängt an! Oder soll ich den Hauptmann rufen?“, höhnte Darius von Weitem.
Martin überlegte noch einen kurzen Moment. Dann zog er seinen dicken Wintermantel von der Schulter, der ihn selbst in Nächten wie dieser nicht frieren ließ, zückte sein Schwert und hieb in mittendurch. Der Bettler schaute ihn ängstlich an, er dachte wohl, Martin wolle ihn jetzt auch mit dem Schwert bedrohen. Doch der legte sich den halben Mantel
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