Von den Sternen gekuesst

Adern. Was aber auch daran liegen könnte, dass ich sterbe. Dass ich verblute.
    Aber nein, es hat sich noch etwas verändert. Obwohl ich schwach und wie ausgedörrt bin, strahlt etwas in mir wie eine Sonne – ein Feuerball aus gleißender, heißer Energie – und dringt aus jeder Pore. Außerdem noch diese körperliche, fast schmerzliche Reaktion, die mich vor den sich nähernden Numa warnte, als Violette und Louis die Kabine betraten. Und schlussendlich ihre Nimbusse. Statt der farblosen Aura, die ich vor meinem Tod um jeden Numa gesehen hatte, zeichnen sich nun blutrote, nebelförmige Glorienscheine über ihren Köpfen ab, ganz wie sie von den Flammenfingern in den Wandgemälden dargestellt worden waren. Ich nehme sie also jetzt genauso wahr. Ich bin kein Mensch mehr.
    »Nein!«, schreie ich, bevor meine Stimme versagt. Ich zerre wie wild an meinen Fesseln, trete, reiße und werfe mich im Bett herum, bis ich aufgebe und zu weinen beginne. Wobei, nein, ich weine nicht, ich schluchze. Wimmere. Tränen laufen mir über die Wangen, ich hebe die Hand, will sie wegwischen, weil ich vergessen habe, dass ich gefesselt bin und mein Gesicht nicht erreichen kann.
    Ich werde in den Arm gekniffen. Sehr fest. Ich öffne die Augen und blicke direkt in Violettes Gesicht. »Du bist ohnmächtig geworden«, erklärt sie sachlich. »Das ist nicht außergewöhnlich, wenn man aus einem so gewaltsamen Tod erwacht.«
    »Warum hältst du mich hier fest?«, grummele ich. Wenn ich mich irgendwie befreien könnte, würde ich ihr eigenhändig die Augen auskratzen. »Du hast mich als Köder missbraucht, um Vincent wieder in die Falle zu locken. Er stand doch direkt vor dir, was um alles in der Welt willst du mit mir?«
    »Was ich mit dir will?«, wiederholt sie und tippt sich mit dem Zeigefinger an das Kinn. »Du, Kate, bist der viel beschworene Meister. Und ich, Violette, will deine Kräfte. So einfach ist das.« An Louis gerichtet, spricht sie weiter. »Holst du der Meisterin bitte noch etwas Wasser? Wir können sie ja schlecht verrecken lassen, bevor sie all ihre Kräfte überhaupt erst erlangt hat.« Louis verlässt die Kabine.
    Ich hatte jede erdenkliche Antwort durchgespielt, die sie mir auf diese Frage geben konnte, doch damit habe ich nicht gerechnet. Ungläubig starre ich Violette an, die sich einen Stuhl heranzieht und sich zu mir setzt.
    Sie hat den Verstand verloren , denke ich. Ihr psychischer Gesundheitszustand war ja schon vorher eher fraglich gewesen. Durch ihre neue Machtposition muss sie jetzt völlig durchgedreht sein. »Du bist verrückter, als ich angenommen hatte«, sage ich.
    »Nun, das ist wohl Ansichtssache«, erwidert sie. »Manch anderer würde mich für äußerst gerissen halten. Für aufmerksam. Womöglich sogar scharfsinnig. Meine vielleicht etwas gewagte Annahme, dass du ein Revenant bist, hat sich ja schon mal bewahrheitet. Und da es sich bei Vincent nicht um den Meister handelte, wie die so jämmerlich missglückte Energieübertragung nur zu deutlich gezeigt hat«, gedankenverloren reibt sie sich mit der Hand über die Stelle, an der einst ihr kleiner Finger saß, »stehen die Chancen sehr gut, dass du diejenige bist, die ich suche.«
    Da ich sie nur verständnislos anglotze, schnauft sie ungeduldig. »Die Prophezeiung besagt, der Meister wird außergewöhnliche Fähigkeiten der Kommunikation, Überzeugungskraft und Wahrnehmung besitzen. Wie alle anderen unserer Historiker bin ich davon ausgegangen, dass wir nach einem Bardia suchen, der diese außergewöhnlichen Fähigkeiten besitzt. Dabei war damit die ganze Zeit jemand gemeint, der schon zu Lebzeiten darüber verfügt.
    Und dann wurde mir plötzlich so manches klar. Denn der Teil mit der Kommunikation ist einfach offensichtlich. Ich hatte Vincent für besonders veranlagt gehalten, weil er in volanter Form mit einer Sterblichen sprechen konnte. Dabei war es umgekehrt: Du bist die mit der besonderen Veranlagung.«
    Sie dreht sich mit dem Stuhl so, dass sie meine Reaktion sehen kann, während sie weiterspricht. »Alle Bewohner von La Maison haben dir praktisch aus der Hand gefressen, sogar Jean-Baptiste, der eigentlich nie mehr Kontakt zu Sterblichen hat, als absolut notwendig. Vincent ließ sich wider besseres Wissen auf dich ein, außerdem hast du dich erfolgreich in die Herzen sämtlicher Pariser Revenants geschlichen. Das verdient den Titel außergewöhnliche Überzeugungskraft wirklich .
    Und dann ist mir wieder eingefallen, was Vincent mich am Vorabend