Von den Sternen gekuesst
wurde in Kisten aus Stein aufbewahrt – ganz wie die kistenförmige Urne, auf der die Verkörperlichungszeremonie abgebildet ist.«
Für ein paar Minuten aßen wir schweigend.
»Bran, wie lautete noch mal dein Reim?«, fragte ich.
Er drehte den Zettel zu mir, über den er und Papy vorhin gebeugt gesessen hatten. Also hatten sie beide sich bereits mit dem Reim beschäftigt, als ich zu ihnen gestoßen war. Ich las ihn laut vor:
Mensch aus Lehm wird Mensch aus Fleisch,
unsterbliches Blut und sterblicher Atemzug,
Spuren sollen die Seele binden,
durch Flammen sich des Körpers Geist und
Verstand einfinden.
Ich betrachtete die Worte kurz und sagte dann: »Wo das eine Gedicht von ›Asche‹ spricht, steht bei dem anderen ›Spuren‹.«
»Nun, ich habe das altbretonische Wort mit ›Spuren‹ übersetzt, aber es kann gleichzeitig auch ›sterbliche Überreste‹ bedeuten«, erklärte Bran, seine Augen leuchteten interessiert.
»Asche, sterbliche Überreste«, wiederholte ich, mein Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Wir brauchen also etwas Irdisches von Vincent, damit sich sein Geist an die Tonfigur binden lässt, weil seine Seele sonst komplett aufgelöst wird.«
Dann traf mich die Erkenntnis wie ein Schlag. »Ich habe doch etwas von ihm!«, rief ich, sprang auf die Füße und fischte nach dem schwarzen Band, das sich an meinem Hals befand. Ich zog daran die beiden Anhänger unter meinem T-Shirt hervor, die ich nie ablegte: das signum und das Medaillon. Die beiden Männer schauten mich fragend an, als ich ihnen den herzförmigen Anhänger entgegenhielt. »Darin ist eine Strähne von Vincent.«
Adrenalin schoss mir nur so durch die Adern und am liebsten wäre ich sofort mit Papy und Bran im Schlepptau zurück ins Museum gerannt, um einen erneuten Versuch zu starten. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass ich das fehlende Puzzleteil die ganze Zeit um den Hals getragen hatte.
»Wo hast du das denn her?«, fragte Papy.
»Von Jeanne, der Haushälterin von Jean-Baptiste. Sie bewahrt eine Strähne von jedem einzelnen Revenant, der im Haus wohnt, in so kleinen Schmuckdöschen auf.«
»Wie eigenartig«, sagte Papy.
»Das ist so eine Art Familientradition, die sie von ihrer Mutter, besser gesagt von der Großmutter übernommen hat.«
Papy trommelte plötzlich aufgeregt auf den Tisch. »Da steckt ganz offensichtlich ein ziemlich guter Grund dahinter«, sagte er dann. »Jeanne wusste vermutlich nicht einmal, dass sie eine überaus nützliche Tradition fortführte, die irgendwann einmal zu genau diesem Zweck aufgenommen worden war: um für den Fall einer notwendigen Verkörperlichung etwas Irdisches zur Hand zu haben. Faszinierend!«
»Dann haben wir die Lösung gefunden!« Ich nahm Papys Hand, wollte ihn zum Mitkommen bewegen. »Das sollten wir Mr Gold so schnell wie möglich wissen lassen.«
»Ich habe seine Telefonnummer«, sagte Papy, holte sein Handy hervor und begann zu wählen.
Bereits eine halbe Stunde später standen wir alle ein zweites Mal um das Rauchgefäß. Jules hatte sich sofort ins Taxi gesetzt und war aus Brooklyn herangedüst, als Mr Gold ihn angerufen hatte. Ein riesiger Abluftventilator saugte diesmal gierig den Rauch der Fackel auf. Mr Gold machte sich einfach zu große Sorgen, dass Passanten auf der Straße oder später die ersten Besucher des Museums das Feuer riechen würden. Die blutigen, wässrigen Spuren des gestrigen Versuchs waren verschwunden, nur der nun wieder unversehrte Golem kauerte in der Mitte der Schale. Darum hatte sich vermutlich Mr Gold noch in der Nacht gekümmert.
Ich setzte mich zu Jules, der auffallend blass war.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ich bin nicht gerade scharf darauf, mir noch einmal in den Arm zu schneiden«, sagte er, während er mit einer kleinen Schere die Fäden durchtrennte, mit denen er in der Nacht genäht worden war. »Natürlich ist Vincent das wert, so ist es nicht. Aber ich nehme lieber noch einmal dieselbe Stelle, dann müssen nicht gleich mehrere tiefe Wunden heilen, wenn ich das nächste Mal ruhe.«
»Wie war denn deine Nacht bei den New Yorker Anverwandten?«, fragte ich.
»Gut«, sagte er mit einem Ausdruck, der deutlich machte, dass er nicht weiter darüber sprechen wollte.
»War jemand dort, den du kanntest?«, hakte ich dennoch nach.
»Ja, ein paar Jungs, die ich von der internationalen Konferenz in London kannte, wo ich vor vielleicht zehn Jahren war.« Er seufzte und widmete sich wieder seinem Arm, wo er
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