Von den Sternen gekuesst
einen weiteren der kleinen schwarzen Fäden durchtrennte. »Es war sogar ganz schön. Sie hatten eine richtige Willkommensfeier für mich vorbereitet, mit der wir loslegten, sobald ich verarztet worden war. Und als ich vorhin gefahren bin, war sie noch nicht vorbei.«
»Ich bin auf der Stelle eingeschlafen«, gestand ich. »Du genießt einen der großen Vorteile des Zombiedaseins: kein Jetlag.«
Jules lächelte. Ein echtes Jules-Lächeln. Es tat richtig gut, das mal wieder zu sehen.
»Wir müssten dann anfangen, bevor die ersten Museumsmitarbeiter eintrudeln«, meldete sich Mr Gold.
»Super«, kommentierte Jules trocken. Er stand auf und hielt mir den unverletzten Arm hin, um mir hochzuhelfen.
Ich nahm wieder meinen Platz auf der obersten Stufe der Trittleiter ein und lugte über den Rand des Thymiaterions zu Vincents Tonabbild. Jules stand rechts von mir, Bran gegenüber von uns und Papy hielt sich im Hintergrund mit der Fackel bereit. Bran streckte gerade die Arme aus und Jules setzte das Messer an, als ich Vincent hörte: Nein!
»Vincent, was ist los?«, fragte ich. Alle erstarrten.
Violette holt mich zu sich zurück. Ich werde von hier weggezerrt.
»Kämpf dagegen an, Vincent!«, flehte ich.
»Wogegen?«, fragte Mr Gold.
»Violette versucht, ihn zurückzuholen!«
»Ist er noch da?«, rief Papy.
»Ja, aber ich sehe, dass er Richtung Decke gezogen wird. Doch er scheint sich zu wehren. Wir müssen uns beeilen«, sagte Bran und breitete seine Arme über dem Tonmann aus.
Ich öffnete das Medaillon, holte Vincents Haarsträhne heraus und verharrte einen Moment lang ratlos, weil ich nicht wusste, was ich damit machen sollte. Dann drückte ich sie kurzerhand mit dem Daumen in die Schulter des Lehmkörpers.
Diesmal sah ich nicht zu, wie Jules sich in den Arm schnitt. Ich konnte den Anblick einfach kein zweites Mal ertragen. Doch schon strömte wieder reichlich Blut über den Golem, weshalb ich mich vorbeugte, um ihm leicht aufs Gesicht zu hauchen. Bran schien nach dem für mich nicht sichtbaren Vincent zu greifen, in dem Versuch, ihm Richtung Schale zu helfen.
Kate , hörte ich Vincents Stimme , ich weiß nicht , ob ich stark genug bin , um …
Er verstummte. »Ist er noch da?«, schrie ich und starrte verzweifelt zu Bran.
Bran schaute sich im Raum um und schüttelte dann den Kopf. »Nein, er ist fort.«
Papy ließ die Fackel sinken. Mr Gold stand neben dem Wassereimer und wirkte hilflos. Jules stützte den blutenden Arm auf den Rand des Thymiaterions und fuhr sich mit der freien Hand an die Stirn.
Ich war fassungslos. Wir waren so kurz davor gewesen, Vincent zurückzubringen, und ausgerechnet in diesem entscheidenden Moment holte Violette ihn zu sich zurück. Ein Hass, wie ich ihn nie zuvor empfunden hatte, brachte mein Blut in Wallung. Das konnte sie nicht tun. Violette konnte mir Vincent nicht nehmen. Das konnte nicht das Ende sein. Wut und Schock über das, was gerade geschehen war, verschmolzen miteinander und machten mein Herz hart. Angetrieben von etwas, das größer und älter war als ich, befahl ich: »Komm zurück, Vincent. Sofort! « Die Wände der riesigen Ausstellungshalle warfen das Echo meiner Worte zurück.
Und dann hörte ich, so laut, als würde jemand ein Megafon an mein Ohr halten: Ich bin wieder da, aber nicht für lange. Beeilt euch!
»Er ist zurück! Schnell!«, rief ich. Papy machte einen Schritt nach vorne und hielt die Fackel an die Tongestalt. Während blaue Flammen ausschlugen, sprang Jules rückwärts und ich fiel von der Trittleiter auf den Boden.
»Vincent! Nicht loslassen!«, schrie ich, während ich versuchte, wieder auf die Füße zu kommen. Ich umfasste den Rand der bronzenen Schale und zog mich daran hoch, um nichts zu verpassen. Die Flammen schlugen immer höher aus, formierten sich zu einem riesigen Feuerball, der mit einem lauten Zischen explodierte. Danach loderten nur noch einzelne blaue Funken wie kleine Bunsenbrenner auf dem Körper und um ihn herum.
Zögerlich streckte Bran die Hände nach dem ungewöhnlichen Feuer aus. »Kalt. Das Feuer ist kalt. Ganz wie die ›kalten Flammen‹ in der Bildinschrift, Kate«, sagte er und schaute zu mir. »Es scheint zu funktionieren.«
Noch während Bran sprach, fingen die Umrisse des Tonmanns an zu flimmern wie Luft bei extremer Hitze. Allmählich nahm die klobige Gestalt eine immer menschlichere Form an. »Irgendwas passiert da!«, keuchte ich. Vor Furcht und Hoffnung war ich wie gelähmt. »Bitte, bitte,
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