Von den Sternen gekuesst
davon überzeugt, dass Vincent der Meister ist, und arbeitete gezielt auf seine Vernichtung hin. Sie schlug ihm vor, dem ›dunklen Weg‹ zu folgen, da er angeblich den Schmerz lindern sollte, den ihm das Unterdrücken seines Todesdrangs bereitete. So musste sie praktisch nur zuschauen, wie er schwächer und schwächer wurde – bevor sie ihn letztlich eigenhändig überwältigen konnte.«
»Und du bist dir ganz sicher, dass Vincent nicht der Meister ist?« Theo wandte sich an Bran.
»Zu einhundert Prozent«, bestätigte dieser, während er eine der Gurken misstrauisch beäugte, vorsichtig ein winziges Stück abknabberte und fürchterlich das Gesicht verzog, nur um sie dann so weit wie möglich an den Tellerrand zu schieben.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«, fragte Papy und wurde dann plötzlich verlegen, weil er sich einfach so in eine Diskussion mit übernatürlichem Inhalt eingemischt hatte. Aber Theo beschwichtigte ihn. »Antoine, auch du trägst jetzt das signum . Außerdem durftest du an dem wohl mystischsten Ritual teilnehmen, das selbst ich als Bardia je bezeugt habe. Davon abgesehen, ist deine Tochter die Freundin eines Revenants. Du hast also jedes Recht, auch Fragen zu stellen.«
»Vielen Dank«, sagte Papy.
»Ich erkenne es an seiner Aura«, erklärte Bran. »Er hat die ganz typische Aura eines Revenants. Oder wie wir Flammenfinger gern sagen: eine Aura wie ein Waldbrand. In unserer Prophezeiung steht jedoch, dass die Aura des Auserkorenen ›strahlt wie ein verglühender Stern‹. Vincents Aura hingegen ist nicht anders als die von Jules. Oder deine«, sagte er und nickte Theo zu.
»Woher wissen wir dann, dass dieser Auserkorene schon unter uns weilt?«, fragte Theo.
»Er weilt noch nicht unter uns. Er wird erst noch auferstehen«, sagte Bran und schob mit einer schnellen Geste den Teller weg.
»Aber sollten sich nicht alle Pariser Revenants versammeln, damit du ihn identifizieren könntest?«, fragte ich. »Wieso der Aufwand, wenn du doch eh schon sagen kannst, dass es noch gar keinen Auserkorenen gibt?«
Bran zuckte mit den Schultern. »Das war Jean-Baptistes Idee, nicht meine. Und er wirkte zu entschlossen, um es ihm auszureden.«
»Und wieso bist du so sicher, dass er ausgerechnet jetzt erscheinen wird?«, insistierte Theo.
»Weil ich derjenige bin, der den Auserkorenen identifizieren kann. Ich hätte diese Gabe nicht, wenn es nicht bald einen Auserkorenen zu identifizieren gäbe«, sagte Bran leicht gereizt.
Stille legte sich über den Raum, alle starrten Bran an, dem das sichtlich unangenehm war.
»Woher weißt du, dass du diese Gabe hast?«, fragte Jules, stützte sich auf seine Ellbogen und faltete die Hände.
»Ich habe gespürt, wie sie aktiviert wurde. Es ist in dem Moment passiert, als ich Jean-Baptistes Hand berührt habe. Ich weiß genauso klar und deutlich, dass ich diese Gabe habe, wie meine Mutter wusste, dass sie sie nicht hat«, fasste er so schlicht zusammen, als handele es sich um die offenkundigste Sache der Welt.
»Nun gut, dann weißt du also, dass der Meister zu deinen Lebzeiten erscheinen wird«, sagte ich. »Aber wieso ist sich Violette so sicher, dass er bald auftaucht?«
»Die Prophezeiung der Revenants stimmt mit der der Flammenfinger überein«, antwortete Bran. »Nach Revenant-Zeitrechnung herrscht gerade die Dritte Epoche, die mit der industriellen Revolution begann. Seither scheint Violette aufmerksam nach jemandem Ausschau gehalten zu haben, der die Eigenschaften des Meisters tragen könnte. Und offenbar hat sie in Vincent gefunden, wonach sie suchte.«
»Mir glühen hier drüben allmählich die Ohren«, meldete sich Vincent. »Noch dazu glüht mir die Kehle, könnte mir vielleicht jemand etwas zu trinken geben?« Ich sprang auf und schob den Tisch mit den Lebensmitteln so nah zur Couch, dass sich Vincent problemlos selbst bedienen konnte.
Die Männer standen auf und Theo fing an, den Tisch abzuräumen. »Wir sollten Vincent wirklich absolute Ruhe gönnen, damit er sich so schnell wie möglich erholen kann«, sagte er.
»Ich möchte bei ihm bleiben«, drängte ich.
»Aber natürlich, meine Liebe«, sagte Theo schnell. »Was hält denn der Rest von einem neuerlichen Besuch im Privatteil des Museums? Diesmal lasse ich es mir nicht nehmen, euch ausführlich die umfangreiche Sammlung zu zeigen.«
Papy und Bran mussten kein zweites Mal gebeten werden, während Jules zurück zur zweiten Couch ging und sich darauf fallen ließ. »Da ihr diesmal
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