Von der Liebe, linken Händen und der Angst vor leeren Einkaufskörben
mit einem um den Kopf gerollten Faden geboren. Als Kind, ich.
Keine Sorge, ich werde euch jetzt nicht mit Anekdoten aus der Kindheit der Autorin auf den Geist gehen. Das ist nicht das Thema, und wir verlieren nur Worte, ihr wie ich. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Meine Schwester wurde mit einem Pinsel in der Hand geboren, was ebenfalls eine Menge Ärger mit sich bringt. Wenn ich dieses anrührende Detail erwähne, so nicht, um eine Schwester-der-Autorin-als-Kind-Geschichte zu erzählen, das könnt ihr euch wohl denken. Obwohl es ausgesprochen gehaltvoll wäre, vielleicht sogar zu sehr. Sondern um beiläufig anzumerken, dass sich diese Sache mit dem Pinsel bei meiner Schwester sehr bald offenbarte. Es ist für Eltern, gelinde gesagt, ziemlich beunruhigend, ein Künstler-Kind zu haben. Während also meine Zwillingsschwester Enten malte (Enten, was sonst, sie war ja ein Kind, und ihr werdet von einem Kind nicht verlangen, dass es »Das sterbende Griechenland auf den Ruinen von Athen« malt, also bitte, seid ein bisschen realistisch), bemerkte niemand,dass ich schon die Brauen runzelte mit Blick auf die Probleme der weiten Welt. Niemand ahnte etwas von den Knäueln, die ich unter meinem Bett hortete. Bis zu dem Tag, ihr kennt die berühmte Geschichte, wo ich meine Taschenlampe anknipste, um sie nächtens in Augenschein zu nehmen. Da begriff der Familienrat, dass ich an Fäden zog. Dass man diese Fäden verknüpfen konnte. Dass man von der Verknüpfung zum Strick und vom Strick zur Kette, schließlich zum Knäuel der Welt gelangte. Kein belangloses Thema. Darum wecke ich euch heute: damit ihr euch lockert, euch entspannt. Lasst euch gehen, die Beine von euch gestreckt, die übereinandergeschlagenen Stiefel auf eurem Bündel abgelegt, Hände im Nacken. Wir machen uns jetzt mal zügig ans Abwickeln dieses Knäuels, und ist das erst erledigt, erholen wir uns bei einem Kriminalroman.
Gute Idee. So machen wir das.
Ihr hattet vollkommen recht. Es gibt nicht ein riesengroßes Weltknäuel auf der einen Seite und Milliarden winziger, armseliger persönlicher Knäuel auf der anderen, die über die Erdoberfläche wuseln.
Es ist ein und dasselbe.
Denn die Milliarden winziger Knäuel und ihre Milliarden individueller Probleme sind es, die die entsetzlichkomplexe Synergie des monströsen Weltproblemknäuels bilden. Ihr seht, das alles ist keine Hexerei, so weit sind wir im Handumdrehen schon gekommen, und sogar vollkommen entspannt. Ich könnte euch Beispiele nennen, wenn ihr wollt, aber seien wir vernünftig. Ich habe Arbeit bis über beide Ohren, ihr, nebenbei bemerkt, auch, vergesst sie nicht: eure Arbeit. Da lümmelt ihr euch lesend auf dem Bett, und unterdessen wartet eure Arbeit. Wir alle sind uns dessen bewusst. Also beeilen wir uns.
Ihr dachtet, ich würde eure persönlichen Irrungen vergessen, über eure Nöte hinweggehen, über eure Arbeit, die nicht vorankommt, ganz zu schweigen von eurem Frust in der Liebe, um nur mal die großen Sorgen der Welt zu nennen? O nein, ich sehe euch zu, ich befasse mich mit euch. Mit allem. Selbst mit denen, die sich einen Nagel zu kurz schneiden. Selbst mit denen, die Muscheln sammeln, ich meine, in ihrem Alter. Mit denen, die den ganzen Tag gar nichts tun. Selbst mit den Künstlern. Die leiseste Schwingung der Welt wird von mir verzeichnet. Denn sie ist drin im Knäuel. Auch der abgeschnittene Nagel, ja natürlich. Die Melancholie des Abends, das Brot des frühen Morgens, die zehn Finger eurer Hände, nichtslasse ich aus, kein Krümchen Leben, ich grabe tief. Überschlagen wir mal kurz: Wenn wir davon ausgehen, dass jedes menschliche Wesen, vorsichtig geschätzt, vierzig Milliarden Erlebnisse sowohl physiologischer als auch emotionaler oder spiritueller Natur in sich birgt ‒ aus wie vielen entscheidenden Partikeln besteht dann das Weltknäuel bei den sechs Milliarden Menschen mit gleichschweren Problemen, die die Erde zählt? Und aus wie vielen Wechselwirkungen zwischen den Partikeln der einen und den Partikeln der anderen, die dazu führen, dass das Knäuel sich thermisch aufheizt? Was wiederum wie viele Kilometer Problemzwirn ergibt auf der großen Spule des Universums? Hinzugezwirnt außerdem siebzig Billionen Landschaften, die sich da auch noch reingedrängelt haben, plus Klimavariationen, Pflanzen, Tiere, einschließlich Fingernägeln, Mineralen und Gasen, Stickstoff, Sauerstoff, Nitrat, ihr könnt die Liste allein vervollständigen ‒ macht also wie viele? Fügt die
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