Von der Liebe verschlungen
Ich fand mich in einer Gruppe von etwa zwanzig anderen Damen wieder, doch es kam mir vor, als seien es doppelt so viele, wegen der gigantischen glockenförmigen Röcke, die gerade in Mode waren. Ich konnte kein anderes Kleid in der anschmiegsamen Meerjungfrau-Linie, wie ich es trug, erkennen. Selbst wenn man mich nicht sofort erkannte, würde man sich eines Tages an mein Kleid erinnern, falls ich Erfolg hatte.
»Denken Sie, der Schnee wird dieses Jahr überhaupt fallen?«, fragte eine hochgewachsene Dame in Weinrot eine würdige ältere Dame in Indigo.
Die Ältere biss sich auf die Lippe und verdrehte seufzend die Augen gen Himmel. »Wir können nur hoffen, dass Aztarte unsere Gebete erhört«, antwortete sie orakelhaft und ließ damit die Frau in Rot überaus verärgert stehen.
»Wenn Sie mich fragen, geht da etwas ganz Hinterhältiges vor«, meldete sich eine dunkelhäutige junge Frau in Kanariengelb zu Wort und schob ihre Röcke etwas beiseite, um Seite an Seite mit der großen Frau in Rot zu gehen. »Nichts ergibt einen Sinn. Jemand sollte den Mund aufmachen und fragen.«
»Warum fragen Sie denn nicht selbst?«
Die junge Frau stieß ein helles, hohes Lachen aus, so falsch wie die Diamanten in ihren Ohrsteckern. »Ich bin misstrauisch, nicht lebensmüde.« Sie tätschelte ihrer Begleiterin die Hand und verschwand in der Menge.
Ich sah von Gesicht zu Gesicht und suchte nach jemandem, der mir vertraut war. Die Masken konnten nicht alles verbergen, und ich hatte jahrelang an Frostlands Königshof getanzt. Doch ich sah nur sehr wenige bekannte Gesichter, und ich verlor den Überblick über meine geistige Liste von mir Bekannten, die hier sein sollten, aber nicht hier waren. Mikhail hatte auf der Maybuck die Wahrheit gesagt: Ravenna hatte das alte Blud vertrieben und neue Gesichter auf den Ball des Zuckerschnees gebracht. Das bedeutete zum einen, dass ich weniger leicht erkannt werden konnte, doch zum anderen, dass ich hier weniger Verbündete finden würde. Mein einziger eingeschworener Gefolgsmann war Mikhail, und ich hatte keine Ahnung, wann ich ihn wiedersehen würde. Er hatte sich meiner Sache verpflichtet und versprochen, mir zu helfen, doch mit einem Fallschirm auf dem Rücken und Piraten auf den Fersen war ich nicht dazu gekommen, ihn nach dem »Wie« zu fragen.
Der Weg unter meinen Schuhen war aus demselben glatten, sorgfältig behauenen und eingepassten Stein wie die Lichtung, auf welcher der Ball des Zuckerschnees stattfand. Er war vor Tausenden von Jahren geschaffen worden – niemand wusste, von wem, oder wie man es geschafft hatte, den Stein so zu fertigen, dass man vorzüglich darauf tanzen konnte und zugleich nie ausrutschte. Bei meinem ersten Ball hatte ich Satinschuhe getragen, und am Ende der Nacht waren sie völlig durchgetanzt gewesen, mit Löchern, durch die die Blasen an meinen Füßen zu sehen waren, und doch hatte ich nicht aufgehört, zu tanzen.
Wir betraten eine weitere Lichtung, umringt von uralten Bäumen. Mehrere elegante Toilettenhäuschen standen dort in einer Reihe, und weiter vorn hing ein riesiges Zelt an den Ästen darüber. Darin waren Sofas, Schminktische und Laternen platziert, für ein Höchstmaß an Schönheit und Komfort. Ich ging direkt zu einem unbesetzten Schminktisch, um meine Erscheinung im Licht einer weißen Papierlaterne zu überprüfen. Natürlich konnte ich meine Maske nicht abnehmen, also beschränkte ich mich darauf, einzelne verirrte Haare zu bändigen und den Ärmel meines Kleides über einen von Caspers Tintenflecken zu schieben.
Ein unauffälliger Blick bestätigte, dass trotz meines ungewöhnlichen Kleides und meiner übermäßig geheimnisvollen Maske niemand mir irgendwelche Aufmerksamkeit widmete. Die Frauen plauderten und machten sich zurecht, erneuerten ihren blutroten Lippenstift, während lautlose Diener mit Tabletts herumgingen, auf denen Blutwein und pinkfarbener Champagner angeboten wurden. Ich erkundete den Rest des Zeltes, das ein paar Fuß über dem Steinboden schwebte. In einer Ecke war ein kleiner Schrein aufgestellt. Rote Kerzen und Schnittrosen umgaben ein Gemälde von Ravenna mit meinem Bruder Alex, der wie ein Hündchen zu ihren Füßen saß. Doch vor dem Gemälde hatte jemand einen Zeitungsausschnitt abgelegt mit einer Zeichnung von Olgha und mir. Die Schlagzeile lautete: »Werden die vermissten Bludprinzessinnen jemals gefunden werden?« Es gab kein Datum, aber das Papier war vom Alter vergilbt und rollte sich an den
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