Von der Liebe verschlungen
trübem Glas, auf einem Regal an einer schlichten weißen Wand, befanden sich unzählige Monstrositäten. Körperteile, glänzende Schädel, deformierte Föten, die in großen Einmachgläsern schwebten, ein ausgestopftes Kind, das mit Echsenschuppen bedeckt war – und der Kopf einer Frau, der auf einer Platte lag. Keen lief weiter, doch ich blieb stehen und starrte den Kopf an. Diese Frau – ich kannte sie. Korrigiere: hatte sie gekannt .
Sie war nicht beschriftet. Und ich konnte sehen, dass die Augen aus Glas waren, denn die Farbe stimmte nicht ganz. Aber das Haar war echt und mit Sorgfalt arrangiert, und der Schmuck, der von ihren Ohren baumelte, war mit Sicherheit unerlaubt aus dem Privatgemach meiner Mutter geborgt.
»Was gesehen, was du brauchst?« Keen schauderte und wollte weitergehen.
Ich legte eine behandschuhte Hand an das eiskalte Fensterglas. »Olgha«, antwortete ich steif. »Meine Schwester.«
»Du lieber Jesus«, murmelte sie. Ich wusste nicht, wer dieser »Jesus« sein sollte, und außerdem hatte ich einen rotzigeren Ausspruch von ihr erwartet, aber der blieb aus.
Ich war wie hypnotisiert vor Entsetzen und konnte nicht aufhören, in das Gesicht zu starren, das ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte. Von Olghas vielbeklagter übergroßer Nase, die sie von unserem Vater geerbt hatte, bis hin zu der Narbe unter ihrem rechten Auge, die ich ihr mit meinen eigenen Klauen bei einem Streit über eine Schleife beigebracht hatte, war sie hier nun für immer gefangen, zur Schau gestellt wie die Bludhirsche und Wolfsköpfe an den Wänden der Palastbibliothek. Das Einzige, was noch fehlte, war die andere Schwester. Ich.
»Willst du das immer noch durchziehen?«, fragte Keen mit leiser Stimme, und mit einem Fuß schon fluchtbereit.
»Ich muss. Jetzt mehr denn je.«
Ich wappnete mich. Keen reichte mir ein verkrustetes Taschentuch, und ich wischte mir über die Stelle, wo normalerweise Tränen sein sollten, und schob die dunkle Brille etwas fester auf meine Nase, die ich glücklicherweise von meiner Mutter geerbt hatte, oder möglicherweise auch, wie viele meinten, von dem gut aussehenden König Charles von Sveden. Meine ungewöhnlich helle Haarfarbe hatte für viel Gerede gesorgt, was meine Geburt exakt neun Monate nach dem Staatsbesuch meiner Eltern in Stockhelm betraf. Doch selbstverständlich wäre jedermann, der mich etwas anderes als die leibliche Tochter von Zar Nikolas nannte, zu Tode gefoltert worden. In diesem Augenblick, da ich durch das Fenster starrte, war es ein Segen, dass ich meiner Schwester so gar nicht ähnlich sah.
Mit einer Demut, die ich gar nicht empfand, trat ich ein und gab mich so nervös, wie ich es bei verängstigten Menschen gesehen hatte. Ich wollte nicht bedrohlich auf Mr Sweeting wirken. Nicht sofort.
Der Raum war nicht so verstaubt, wie er von außen aussah. Aber er war übervoll. Eine regelrechte Armada von Einmachgläsern stand in einem Bücherregal, in jedem ein abnormes Wesen, von denen eines grotesker war als das andere. Eine ganze Wand voll mit nichts als Köpfen auf Platten, von den üblichen Jagdtrophäen bis hin zu noch mehr Menschen und Bludleuten. Die Blicke aus den Glasaugen schienen uns zu fixieren. Ein großer schwarzer Bär lauerte in der Ecke, mit aufgerissenem Maul, in dem elfenbeinfarbene, rotgefärbte Zähne zu sehen waren. Und die Glastheke gegenüber der Tür enthielt alles, was sich ausstopfen ließ, und sogar noch einiges, wo man ein Ausstopfen nicht für möglich halten würde, wie beispielsweise einen winzigen Kraken, der aussah wie direkt aus dem Wasser geholt, eingefroren und glänzend lackiert. Ein Uhrwerkfuchs mit gefalteten Kupferflügeln an den Seiten kam hinter der Theke hervorgetrottet und bellte.
Etwas streifte meine Schulter mit der unpersönlichen Kälte einer Schlange, und ich unterdrückte ein Zischen. Es war ein gelehrt aussehender Mann in einem eleganten Anzug. Er hatte rote Haut, einen schwarzen Spitzbart und Hörner. Er sah aus wie der Teufel der Pinkies in Person, trotz seiner schicken Krawatte, und ich konnte ihn vom ersten Moment an nicht leiden.
»Kann ich Ihnen helfen, Miss?«, fragte er mit dem Lächeln eines Krokodils.
»Ich wäre interessiert an den Ohrhängern am Kopf dieser … ähm … Dame im Fenster. Stehen sie zum Verkauf?«
»Sie sehen nicht aus wie meine übliche Kundschaft.« Er hatte noch nicht ein einziges Mal geblinzelt. Ich auch nicht.
»Sie sehen auch nicht aus wie mein üblicher Präparator, und Sie
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