Von der Liebe verschlungen
Stimme, aber sie konnte sich nicht mehr an alle Worte von ›Yellow Submarine‹ erinnern, also fing ich an, mitzusingen. Ich habe sie unter meine Fittiche genommen. Zu der Zeit ging es mit mir bereits bergab, aber das habe ich vor ihr verbergen können. Ich steckte schon viel zu tief in der Sucht nach Bludwein, aber niemand hatte mich je gewarnt, dass er Besitz von mir ergreifen und mich in den Wahnsinn treiben würde. Ich sorgte dafür, dass sie sicher war und zu essen hatte, aber ich hielt sie immer auf Distanz, weil ich wusste, dass ich eines Tages entweder sterben oder verwandelt werden würde. Jetzt wird mir klar, dass ich ihr damit einen schlechten Dienst erwiesen habe. Ich habe sie nie wirklich als das gesehen, was sie war. Ich sah nur ein hilfloses Kind aus meiner Heimat. Und jetzt tut sie das, was jeder Teenager in Amerika tut – sie rebelliert.«
»Das machen Teenager in Frostland auch«, antwortete ich, legte den Kopf schief und sah ihn prüfend an. Es gab gewisse Dinge an ihm, die immer fremdartig und exotisch gewirkt hatten. Sein Hautton, die Form seines Gesichtes. Sein fremdartiger Akzent, den er nun sprach anstelle des kultivierten Akzents von Sangland. Konnte er wirklich aus einer anderen Welt stammen? Natürlich hatte ich Geschichten über Fremdlinge gehört, die angeblich aus dem Nichts auftauchten, nackt und hilflos. Aber in Frostland kamen sie nicht so häufig vor wie in Sangland, und ich hatte nie einen leibhaftig gesehen. Für uns waren Fremdlinge das, was für sie Einhörner waren: hübsche Geschichten, ohne jeglichen Bezug zur Realität.
»Also rebelliert sie jetzt. Also mag sie mich nicht. Na und?«
»Es liegt nicht nur an dir. Es liegt an mir. Ich habe das Ganze weitestgehend von ihr ferngehalten, die Tatsache, dass ich ein Halbblud bin und dass ich langsam darunter leide. Ich habe den Bludwein versteckt und sie davon abgehalten, mir zu folgen, wenn ich nach Darkside ging, um Phiolen mit Blud zu kaufen oder gegen mein eigenes Blut einzutauschen. Immer wenn der nächste Anfall kam, habe ich mich in meinem Zimmer eingesperrt und mich betrunken. Erst jetzt, da wir eingepfercht in dieser winzigen Kabine auf dem Luftschiff leben mussten, und nachdem sie mit den anderen Mädchen auf der Maybuck geplaudert hat, ist ihr klar geworden, was das bedeutet.«
»Was bedeutet es denn?«
»Du weißt, was es bedeutet. Du hast Cora gehört. Es bedeutet, dass ich bald entweder ein Bludmann werden muss oder den Verstand verliere.«
Ich schnaubte und schnippte mit den Fingern. »Und das ist so schlimm?«
»Stell es dir vor. Du wachst nackt in einer fremden Welt auf, in der alles anders ist. Du bist nur ein Kind, du hast Angst, du wirst beinahe von riesigen roten Ratten gefressen. Es gelingt dir mehr schlecht als recht, auf der Straße zu überleben. Du bist immer kurz davor, zu verhungern, und dann kommt ein reicher und glamouröser Landsmann daher, nimmt dich unter seine Fittiche und wird zur einzigen Verbindung zu deinem früheren Leben, das du geliebt hast. Und dann wird diese Person mit der Zeit distanziert, gefährlich, unberechenbar. Fängt an, falsche Entscheidungen zu treffen; Entscheidungen, die sich wie Verrat anfühlen. Was hat das Kind denn auf dieser ganzen Welt außer mir? Und immer wieder habe ich das Blud ihr vorgezogen, habe sie beiseitegeschoben, und ihr nur das Nötigste gegeben.«
Er donnerte seine Faust in den weichen Erdboden. Als er seinen Hut zurückschob und sich mit der Hand durch das Haar fuhr, blieben Erdklumpen und Laub in seinen schweißfeuchten kupferfarbenen Strähnen hängen.
»Und jetzt?« Meine Stimme zitterte.
»In meinen Träumen findet sie einen Platz in deinem großartigen Schloss. Sie hat ihr eigenes Zimmer, hübsche Kleider, gesundes Essen. Ich habe sie so glücklich gemacht, dass sie mich nicht mehr braucht. Und das ist der schlimmste Verrat von allen.«
»Für jemanden sorgen zu wollen und das Beste für ihn zu wollen, ist kein Verrat.«
Von einer Sekunde auf die nächste war er so nahe, dass ich seine Augen sehen konnte, die wie wild funkelten. »Ahna, ich will nicht das Beste für sie. Ich will das Beste für mich.«
»Und was ist daran falsch?«
»Ich schulde ihr etwas. Verstehst du denn nicht? Ich bin für sie verantwortlich. Ich weiß nicht, wie ich ihr Schutz bieten soll, ohne dafür meine eigenen Bedürfnisse aufzugeben, und ich bin nicht länger bereit, das zu tun.« Er griff in seinen Mantel und holte die Feder hervor, die ich in dem Kästchen
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