Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
Genesis zu spielen. Ausgerechnet Genesis . Wenn es etwas gibt, für das sich meine Generation gegenüber der Geschichte wirklich schämen sollte – dann Genesis .
Am Samstag ging ich noch zu einem weiteren 50. Geburtstag mit einem ganz anderen Konzept, wo ich vor 10-minütigen Schlagzeugsoli sicher sein würde. Die Gäste trafen sich um 6 Uhr in der Frühe – irgendeinen Haken hatten all diese Einladungen – am Hauptbahnhof. Von dort ging es mit dem Zug nach Garmisch und weiter mit der Alpspitzbahn, die uns auf sportliche 2000 Meter brachte. Hier wurde eine Decke auf einer Blumenwiese ausgebreitet. So lasse ich mir einen 50. Geburtstag gefallen, dachte ich, während ich Brezn und Weißwürste in mich hineinstopfte. Ein Picknick in frischer Bergluft mit einer Handvoll netter Leute, unter uns das schöne Oberbayern, über uns der blaue Himmel. Was will man mehr? In diesem Moment, als ich zum ersten Mal seit Martinas Auszug eins war mit mir und der Welt, klopfte mir das Geburtstagskind – ein Kollege – auf die Schulter und meinte, ich solle besser nicht so viel essen.
»Gibt’s noch mehr?« erkundigte ich mich.
Der Kollege antwortete, es sei Zeit zum Aufbruch, weil wir vor Steinschlag sicher wären, solange die Wand noch im Schatten läge.
Steinschlag? Die Wand?!
Während ein blauer Müllsack herumging, in den wir Teller und Besteck werfen sollten, verteilte mein Kollege Klettergurte. »Du weißt, wie man damit umgeht?«
Nein, wusste ich nicht. Aber ich wollte in dieser Runde aus lauter bärtigen, durchtrainierten Männern in meinem Alter nicht den Eindruck erwecken, ich gehörte zum alten Eisen.
Und schon ging es auf der »Via Ferrata« Richtung Alpspitze, deren Gipfel nicht zu sehen war, weil die Wand sich nach außen wölbte, sodass jede Menge Luft zwischen meinen zitternden Beinen war.
Wir waren mit den Kindern oft in den Alpen, als sie noch klein waren. Aber zwischen einer Bergwanderung von Hütte zu Hütte und der Direttissima durch eine Wand von 600 Metern Höhe liegt ein himmelhoher Unterschied, auch wenn wir uns an Drahtseilen und Eisenleitern emporhangelten, während ich mich fragte, warum ich plötzlich solche Angst um mein Leben hatte, das mir vor kurzem noch so wenig attraktiv erschien.
Auf dem Gipfel stimmte einer der Gäste einen Kanon an. Mir war nicht nach Singen zumute. Nach Luft schnappend überlegte ich, wo die Sherpas die Sauerstoffflaschen versteckt haben könnten.
»Der Hahn ist tot, der Hahn ist tot …«
Gibt es etwas Grauenhafteres als dieses Lied?
»Er kann nicht mehr schreien kokodi, kokoda …«
In diesem Moment wünschte ich mir I never had Sex with Miss Lewinsky auf den Gipfel der Alpspitze, die diesem Scheißhahn, der trotz aller Beteuerungen immer noch schrie, mit einem 10-minütigen Schlagzeugsolo den Hals herumdrehen würden.
4
Soll ich einen Wein für uns aufmachen? Rot oder weiß? Wenn du lieber Weißwein trinkst, würde ich die Flasche kurz ins Eisfach legen, damit sie ein bisschen chillen kann.
Als ich von dieser Fast-Todeserfahrung mit aufgerissenen Händen und brennenden Muskeln in unsere leere Wohnung zurückkam, realisierte ich, dass ich in den 20 Jahren, die wir hier jetzt wohnten, fast nie alleine gewesen war. Okay, ich war tagsüber allein, wenn Martina in ihrer Praxis war, ich keine Seminare gab und zuhause arbeitete. Abends gingen wir dann zusammen ins Kino oder ins Restaurant, und wenn wir zuhause blieben, weil ich die Belege für die Steuer sortierte und Martina ihre Anträge an die Krankenkasse schrieb, standen immer die Türen unserer Arbeitszimmer offen. In einem der Zimmer lief Musik, und der andere rief: »Kannst du ruhig lauter machen!« Später wurde eine Flasche Wein geöffnet, Martina kuschelte sich zu mir aufs Sofa, schob ihre nackten Füße unter meine Beine und fragte, warum der Spieler mit der Nummer eins den Ball in die Hand nehmen dürfe.
»Weil das der Torwart ist.«
»Und warum zählt das Tor nicht?«
»Weil Messi im Abseits stand.«
»Und warum halten die Spieler die Hände vor ihr Geschlechtsteil ?«
»Kann man hier nicht mal in Ruhe Fußball gucken?!« beschwerte ich mich dann immer. Heute weiß ich, dass dies die glücklichsten Momente meines Lebens waren. Dieses stille Glück – wenn Martina immer zu den Italienern hielt, weil die so süß aussahen.
Stilles Glück – wie belächelt hatten wir diese Formulierung. Das Glück, das wir für unser Leben erträumt hatten, sollte laut sein. Stilles Glück , das
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