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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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erinnerte mich an meine Eltern und die Sonntage zuhause, wenn wir schweigend in unserer Höhle aus deutscher Eiche hockten und in die Feuerstelle namens Fernseher starrten. Glücklich, den Nazis, den Russen
und der Verachtung der Welt entkommen zu sein. Mein Vater wurde an dem Tag geboren, als der Reichstag in Flammen aufging. Seine Kindheit spielte sich vor allem in Luftschutzbunkern ab, und in solch einem Luftschutzbunker kam meine Mutter zur Welt.
    Meine Studenten würden einiges darum geben, im Luftschutzbunker geboren worden zu sein. Sie leiden unter der Leichtigkeit ihres Daseins und lechzen nach Drama. Aber wenn man, wie meine Eltern, als Kind gehungert und gefroren hat und die Bomben der Alliierten das Nachtgebet waren, dann gibt es kein größeres Glück als einen Heinz-Erhardt-Film und eine Tüte Salzstangen. Aber das verstand ich damals nicht. Ich litt unter der Enge meines Elternhauses, wo pünktlich um fünf Uhr nachmittags die Jalousien heruntergingen, selbst wenn draußen noch die Sonne schien. Das Glück meiner Eltern war wirklich still . Es wurde nicht viel geredet, das übernahm der Fernseher. Man wollte nach dem Abenteuer Zweiter Weltkrieg seine Ruhe haben.
    Dass wir, die Babyboomer, auf so eine unwürdige Weise alt werden, wie Nina findet, hängt mit dieser Erfahrung zusammen. Erwachsenwerden bedeutet, die Werte der Eltern in Frage zu stellen. So musste Nina zwangsläufig spießig werden. Ihre Auflehnung bestand darin, sich anzupassen. So gesehen hatten wir Glück, dass unsere Eltern gerade einen Krieg verloren hatten. Wir waren reif für Sex, Drugs & Rock’n’Roll. Unser Glück war laut, und wir wollten es teilen, am besten mit möglichst vielen. Wir wollten der ganzen Welt zeigen: Wir sind anders. Wir haben mit dem Faschismus nichts zu tun. So wurden wir Weltmeister im Gutmenschentum. Und es erklärt, warum wir auf unseren Partys den Hampelmann machen müssen. Auch wenn unsere Eltern keine Macht mehr über uns haben – wir sind immer noch damit beschäftigt, uns von ihnen zu distanzieren.
    Die Leidtragenden sind unsere Kinder. Sie haben das Pech, Eltern zu haben, die sich weigern, erwachsen zu werden, obwohl sie langsam auf die Rente zugehen. Statt den
Dancefloor zu räumen für die nächste Generation, die auch ein Recht darauf hat, jung zu sein, halten wir uns an den Boxen fest, bis wir tot umfallen, weil wir uns vor langer Zeit entschlossen haben, forever young zu sein. Ist es da ein Wunder, dass Nina einen Mann geheiratet hat, der nicht nur weiß, wie man einen Windsor-Knoten bindet, sondern auch ein Zertifikat von einem Derivat unterscheiden kann?
    So ist Ninas Neo-Biedermeier vielleicht gar nicht die Rache der Konservativen an 68, sondern der Normalzustand? Und stand vielleicht gar nicht der Commandante Che Guevara an den Turntables unserer Jugend, sondern ein Gespenst mit schnarrender Stimme und Schnauzbart, das eine verblüffende Ähnlichkeit mit Charlie Chaplin hatte? Wie lässt es sich sonst erklären, dass in all den anderen europäischen Ländern, die wir bereisten, um unser Deutschsein abzuschütteln, es nicht diesen bitteren Bruch gab zwischen Kindern und Eltern, die ich heute – wo ich selbst Vater bin – verstehen kann in ihrem Dilemma: Sie opferten sich für uns auf und ermöglichten uns ein sorgenfreies Leben, trotzdem konnten sie es uns nie recht machen. Denn auf jeder Apfelsine, die sie für uns schälten, jedem Schulbuch, das sie uns kauften, jedem Auto, in dem sie mit uns an den Gardasee fuhren, klebte der Sticker Auschwitz.
    Wenn Nina ihren Zwillingen Namen gibt, die in der deutschen Romantik in Mode waren, ist das die gerechte Strafe für so viel Überheblichkeit. Wären wir mutiger gewesen – damals? Ich bezweifle das, wo ich schon einknicke, wenn die Redaktion mich auffordert, die Szene, in der meine Heldin – eine 14-jährige Schülerin, die ungewollt schwanger wurde – beschließt abzutreiben, noch mal zu überarbeiten. Ich verweise dann auf den entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch, der Abtreibungen nach bestimmten Indikationen bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt und für den ganze Frauengenerationen gekämpft haben. Außerdem brauche ich diese Abtreibung, weil mir sonst meine Dramaturgie wie ein Kartenhaus zusammenbricht. Aber es nutzt nichts.

    »Keine Abtreibung im deutschen Fernsehen in der Primetime !«
    Ich werfe einen Blick in meinen Vertrag, in dem drinsteht, dass ich jederzeit durch einen anderen Autor ersetzt werden kann, und schreibe

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