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Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden

Titel: Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Heinzen
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zurück. Ich bin es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Meine Studenten jedenfalls unterbrechen mich nicht, weil sie gar nicht zuhören, sondern in ihren sozialen Netzwerken unterwegs sind.
    »Wenn alle gleich sind, aber niemand etwas hat? Meinst du das?« versuchte Susanne mich zu besänftigen. Was wiederum Beate auf den Plan rief, die Susanne vorwarf, sie würde einen unterwürfigen Ton mir gegenüber heraushören, der ihr gar nicht gefiel.
    »Ich kann das hier auch sein lassen«, erklärte ich beleidigt und zerriss den Zettel, auf dem ich mir Stichworte und Zahlen zu 1961 notiert hatte.
    »Warum erzählst du nicht ein bisschen aus deinem Leben? « schlug die pragmatische Ingrid vor. »Wer du bist, deine Herkunft und so weiter, statt dich hinter Namen und Zahlen zu verstecken. Wer ist zum Beispiel diese Frau?« Ingrid nahm ein Foto von Martina, das ich vergessen hatte wegzuräumen, und betrachtete es neugierig.
    Statt mich mit der KPdSU und dem kalten Krieg zu beschäftigen,
hätte ich besser die Wohnung gecheckt, ob hier belastendes Material herumlag.
    »Das ist Martina, meine Frau. Wir sind seit 26 Jahren verheiratet. Wir haben uns auf einer Party kennengelernt, am Internationalen Frauentag. Sie ist Psychotherapeutin.«
    »Seid ihr immer noch zusammen?« fragte Susanne, die das Foto, das herumging wie ein Wanderpokal, übernahm.
    Einen Moment war ich geneigt, die Sache mit Dorata zu erzählen. Wozu hat man eine Selbsthilfegruppe, wenn man dort nicht solche Dinge offen aussprechen kann? Andererseits dachte ich, diese Affäre, die gar keine richtige Affäre war und die ich außerdem längst beendet hatte, sei so ein klarer Fall von Altersschwachsinn, dass ich mich damit vor der Gruppe komplett lächerlich machen würde. Weshalb ich erklärte, dass Martina und ich trotz Krisen – wer hat die nicht? – immer noch zusammen wären. »Wir haben sogar schon überlegt«, setzte ich noch eins drauf, wenn ich schon einmal in Fahrt war, »ob wir nicht an Weihnachten ein All-Inclusive-Angebot für Singles anbieten sollen: Feiern Sie Heiligabend zusammen mit einer der letzten vollständigen Familien Deutschlands!«
    »Ich würde da sofort zugreifen«, erklärte Ingrid.
    Alle lachten, sodass es einen Moment dauerte, bis ich realisierte, dass es an der Wohnungstür klingelte. Wer konnte das sein? Hatte jemand ein Paket für mich angenommen? Oder waren es die Zeugen Jehovas, die mir erklären wollten, dass der Weltuntergang bevorstand, wofür ich keine Erklärung brauchte? Wer auch immer vor meiner Wohnungstür stand, ich würde nicht öffnen. Aber das Klingeln hörte nicht auf, sondern wurde immer lauter und fordernder, bis ich begriff, dass dieses Klingeln anders klang, als wenn die Nachbarin keine Eier hatte.
    So klingelte nur Martina, schoss es mir durch den Kopf, während ich die Optionen durchrechnete, die ich hatte, den drohenden Super-GAU abzuwenden. Es waren nicht viele. Ich könnte das Klingeln ignorieren. Jeder in der Gruppe
hätte Verständnis, dass ich nicht gestört werden wollte. Aber dann würde Martina, da sie davon ausging, ich sei nicht zuhause, die Tür aufschließen, denn dies war immerhin auch noch ihre Wohnung.
    »Du hast eine Selbsthilfegruppe gegründet, weil du nicht weißt, was du an deinem 50. Geburtstag machen sollst?!«
    Martinas Gelächter, das nun folgen würde, wäre wie … Vor lauter Stress fiel mir keine passende Metapher ein, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass ich ein Problem hatte. Ich musste Martina daran hindern, die Wohnung zu betreten. Aber wie?
    »Moment!« sagte ich zu der Gruppe, die spürte, dass irgendwas im Busch war. Denn statt sich darüber aufzuregen, dass ich die Runde störte, schauten mich alle erwartungsvoll an. Der Schlüssel drehte sich schon im Schloss, als es mir gerade noch gelang, die Sicherheitskette einzurasten, die eigentlich dafür gedacht war, Einbrecher auszusperren und nicht meine Frau. Was mir mehr als alles andere – Martinas Auszug und die abweisende Reaktion der Kinder – klarmachte, dass sich etwas Wesentliches in meinem Leben verändert hatte.
    »Bist du zuhause?!« rief Martina.
    »Ja, ich bin zuhause«, gab ich mich zu erkennen.
    »Warum hast du die Kette vorgelegt?« fragte Martina misstrauisch, während sie mit dem einen Auge, das der Türspalt freigab, versuchte, einen Blick in unsere Wohnung zu werfen.
    »Du willst wissen, ähm … warum ich die Kette vorgelegt habe?« versuchte ich Zeit zu gewinnen. »Ähm … weil ich Angst habe, wenn

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