Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
nicht ein bisschen streng? Sorry, David, aber du wohnst mit einem Typen zusammen, der sich den zerstörten Reaktorblock von Tschernobyl auf den Rücken hat tätowieren lassen und den ganzen Tag in einer grauen Unterhose herumrennt. Und du, Nina …« Ich konnte mich gerade noch bremsen, die Gelegenheit für eine Abrechnung mit Holger zu nutzen.
»Aber ich vögele nicht mit Sergej!« ereiferte sich David.
»Woher willst du wissen, dass eure Mutter, ähm … dass Martina …« Ich suchte nach dem richtigen Wort, wobei meine Generation vermutlich für keine andere Sache so viele lustige, zärtliche, kraftvolle, neue Wörter gefunden hat wie für Geschlechtsverkehr. Außerdem bin ich Autor. Aber hier versagte meine Sprachkunst. »Dass Martina mit diesem Sammy …« Ich brachte es einfach nicht über meine Lippen.
»Fickt«, kam mir Nina zu Hilfe. Wobei ich auf diese Hilfe gern verzichtet hätte, weil ich das Gefühl hatte, solange diese Sache unausgesprochen blieb, wäre sie nicht geschehen.
»Ich glaube, dass Sammy schwul ist«, versuchte ich zu retten, was noch zu retten war. Aber Nina machte auch diese Hoffnung zunichte.
»Na und? Frauen betrachten es als Herausforderung, schwule Männer zu verführen.«
Danke Nina, du verstehst es, das Messer immer tiefer ins Herz deines alten Vaters zu bohren! hätte ich am liebsten gesagt. Aber ich hielt mich zurück, weil es hier nicht um mich ging. Auch nicht um Martina. Es ging um unsere Kinder, denn nichts anderes als Kinder waren diese beiden verunsicherten Erwachsenen in ihrer Angst, Papa und Mama könnten sich trennen. Dabei kamen sie nur noch an Ostern und Weihnachten nach Hause, und dann nutzten sie die erstbeste Gelegenheit, um sich so schnell wie möglich wieder zu verdrücken: bei Nina die Zwillinge, bei David die
Rettung des Regenwaldes. Warum, fragte ich mich, hielten sie an etwas fest, das sie gar nicht mehr brauchten? Oder anders gefragt, warum sollten Martina und ich wegen unserer Kinder zusammenbleiben, wo die Kinder längst erwachsen waren? Aber das schien Nina und David nicht zu interessieren. Um Zeit zu gewinnen, holte ich neues Bier aus dem Kühlschrank.
»Was ist eigentlich mit deinem Geburtstag?« fragte Nina, als ich aus der Küche zurückkam. »Wirst du nicht demnächst 50?«
Ich schaute auf den kleinen Computer an meinem linken Handgelenk, eine Mischung aus EKG und GPS, der die wenige Zeit, die mir bis dahin noch blieb, auf Knopfdruck ausrechnete. »In fünf 5 Tagen, 22 Stunden und 30 Sekunden.«
»Und, was hast du vor?« hakte David nach.
»Nachdem ihr alle abgesprungen seid mit Kreta, werde ich wohl alleine feiern.«
»Du feierst alleine deinen 50. Geburtstag?!« fragte Nina erschrocken.
»Kein Problem«, spielte ich die Sache herunter und übernahm ganz automatisch die Elternrolle: Erst musst du die Mäuler der Kinder stopfen, dann darfst du dich selbst an den Tisch setzen. Das galt auch für meinen 50. Geburtstag. Wen interessierte es schon, wie ich mich fühlen würde, wenn ich an diesem denkwürdigen Tag mit einer Pizza und einem Bier allein vor dem Fernseher säße, solange ich meinen Kindern das Gefühl gäbe, alles wäre in Ordnung.
»Du feierst echt alleine, Papa?«
Dieses »Papa« war David schon lange nicht mehr über die Lippen gekommen. Um genau zu sein, seit er von seiner ersten Anti-Globalisierungs-Demo zurückkam. Danach war ich »Thomas«, weshalb mir mehr als alles andere dieses »Papa« klarmachte, welche Qualen David gerade durchlitt.
Um meine Kinder zu beruhigen, dass ich alleine klarkäme, wollte ich schon von der Selbsthilfegruppe erzählen, konnte mich aber gerade noch bremsen. Ich sollte alles vermeiden,
was die beiden noch mehr verunsichern könnte. Wenn derzeit einiges schief lief in meinem Leben, wollte ich wenigstens ein guter Vater sein. Außerdem, so flüsterte mir der böse Monkey Mind ins Ohr, könnte ich damit bei Martina punkten, wenn meine Kinder – und das würden sie ganz bestimmt – Martina berichteten, wie souverän und selbstlos ich mit ihrer Affäre umging. Wobei ich es irgendwie ungerecht fand, dass Martina mit Sammy viel schlechtere Karten hatte als ich mit Dorata. Da hatte Ingrid schon ganz recht mit ihrer Einschätzung: Auch wenn die Manager in ihrem Büro zitterten – sobald es um Seitensprünge ging, wurde den Männern immer noch eher verziehen, sogar von den eigenen Kindern. Wichtig war es, kein Kapital daraus zu schlagen. Im Gegenteil, je mehr Verständnis ich für Martina aufbringen
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