Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
der Rede für Beate und überlegte, mit dieser Beobachtung zu beginnen. War das nicht eine schöne Metapher für das Leben: Wenn es endlich losgeht, ist es schon wieder vorbei. Aber eine Trauerrede mit einer lustigen Anekdote zu beginnen, war das nicht taktlos?
Mir wurde klar, dass ich kaum Erfahrung mit Beerdigungen hatte. Auf den Beerdigungen, auf denen ich bisher gewesen war, waren alte Leute gestorben, die schon vorher tot waren. Wie meine Tante, die immer vor dem Fernseher saß, obwohl sie kaum noch sehen konnte, und mit dem Hören klappte es auch nicht mehr. Oder meine Mutter, für die der Tod eine Erlösung war. Auf diesen Beerdigungen war ich nicht richtig traurig, niemand war richtig traurig. Wenn ein alter Mensch, ein wirklich alter Mensch stirbt, und nicht eine Frau von 49, ist das ein ganz natürlicher Vorgang. Ein erfülltes, langes Leben geht zu Ende. Aber plötzlich kamen die Einschläge näher. So wenig ich Beate kannte, bis auf die paar Treffen und unser nächtliches Shooting, ihr Tod war der erste Tod, der mir naheging, weil er mir klarmachte, dass es auch mich jederzeit treffen könnte.
Ich würde Ihnen gern erzählen, wie ich Beate bei unserem letzten Treffen erlebt habe. Ich hoffe, Beate, wo immer du auch sein magst, du hast nichts dagegen. Es war schon spät in der Nacht, meine Kinder waren zu Besuch gekommen, um sich auszusprechen. Ich bin gerade in einer schwierigen Phase meines Lebens …
Was gingen die Trauernden meine Probleme an? Die hatten doch ganz andere Sorgen. Und wäre Beate damit einverstanden, wenn ich erzählen würde, dass ich ihre Brüste fotografiert hatte?
Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich sage, dass Beate am 18. September 50 Jahre alt geworden wäre. Ich werde auch 50 Jahre alt. So haben wir uns kennengelernt. Dieser runde Geburtstag löste bei mir eine Krise aus. Ich dachte plötzlich, mein Leben sei zu Ende …
Ich! Ich! Ich! Wie unsensibel, die ganze Zeit nur von mir zu reden. Es ging um Beate, und nur um sie. Mein Job war es, mit ein paar ehrlichen Worten zu würdigen, wer sie war. Aber wer war Beate? Ich erinnerte mich noch genau, wie sie bei unserem ersten Treffen in die »Altentagesstätte« kam, den Tisch beiseiteschob, hinter dem ich mich verstecken wollte, und darauf bestand, dass wir alle im Kreis sitzen sollten. Dann diese ganzen Regeln. Um ehrlich zu sein, ich fand Beate ziemlich zwanghaft und dachte, kein Wunder, dass sie Single ist. Wie willst du mit Beate Sex haben? Regel Nummer eins … Auch dass Beate das erste Treffen nutzte, um Geld für ihr Projekt zu sammeln, machte sie mir nicht sympathischer. Zwischen einem Gutmenschen und einem guten Menschen besteht ein himmelweiter Unterschied. Erst als ich sie fotografierte, kam mir Beate näher. Dabei fand ich diese Idee zuerst gespenstisch. Aber dann ließ Beate los, sie öffnete sich. Vielleicht war es das erste Mal, dass Beate etwas nur für sich tat. Es ging nicht um die Befreiung der Sexarbeiterinnen oder das Überleben der Orang-Utans. Es ging um sie. Für einen kurzen Moment ging ein Fenster auf, und ich spürte die Frau hinter der Sammelbüchse. Ich kreiste immer wieder um diese Szene – eine sehr schöne Szene. Aber ich hatte das Gefühl, wenn ich sie bei der Beerdigung verraten würde, würde ich Beate verraten. Auch wenn Ingrid das bestimmt ganz toll gefunden hätte wegen der Freude am weiblichen Körper. Scheiß Frauenpower!
Ich schaltete meinen Laptop aus. Warum hielt ich es nicht so, wie ich meinen Studenten immer predigte, bis sie es nicht mehr hören konnten: »Das, was Autoren am wenigsten tun sollten, ist Schreiben. Setzt euch erst an den Computer, wenn ihr wisst, was ihr sagen wollt!«
Ich hatte nichts zu sagen zu Beates Tod, weshalb ich nicht hingehen würde zur Beerdigung. Einfach behaupten, ich wäre krank. Eine Lüge mehr würde auch nichts machen, wo ich in den letzten Tagen ständig log, wenn Freunde und Kollegen unter den seltsamsten Vorwänden anriefen und fragten, wie es mir denn so gehen würde. In Wahrheit wollten sie herausfinden, wie ich meinen 50. Geburtstag feiern würde. Natürlich würde ich meinen 50. Geburtstag feiern, davon gingen alle aus. Vermutlich, so ihre Sorge, war meine Einladung nicht bei ihnen angekommen.
»Gut«, log ich dann, »es geht mir gut. Richtig gut. Mein 50. Geburtstag, ha, ha … erst hatte ich Angst davor. Jetzt sehe ich diesem Datum mit Gelassenheit entgegen. Der Gelassenheit des Alters, ha, ha … Ich muss mir nichts
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