Von der Nutzlosigkeit, älter zu werden
wenn ich gestorben wäre? War eine solche Rede nicht der Grund, warum ich aus der Kirche ausgetreten war? Damit nicht irgendein Priester vor meinem Sarg solch einen Wortmüll auskippen würde?
Ohne dass es eine bewusste Entscheidung war, unterbrach ich meine Rede. Ich würde frei sprechen.
»Ich werde morgen 50 Jahre alt und habe Angst davor. Warum? Weil mir dieses Datum klarmacht, wie viel Lebenszeit ich schon verbraucht habe, und ich mich frage: Habe ich richtig gelebt? Gut gelebt? Hatte ich Erfolg? Ja, mein Leben kann sich sehen lassen. Ich habe zwei nette Kinder und bin mit einer bemerkenswerten Frau verheiratet, auch wenn sie vor vier Wochen ausgezogen ist, weil ich eine Affäre mit einer Praktikantin hatte. Ich bin Dozent an der Filmhochschule und schreibe Drehbücher für Fernsehfilme, von denen Sie den einen oder anderen vielleicht gesehen haben …«
Meine Gruppe schaute sich verwundert an: Was war mit Tommy los? Hatte ich was geraucht? Ingrid machte mir Zeichen, zu meinem Konzept zurückzukommen. Ich griff das dankbar auf.
»Sie werden sich fragen: Warum erzählt der Typ das alles, wo wir uns vor diesem Sarg versammelt haben, um Beate das letzte Geleit zu geben. Beate wäre in vier Wochen 50 Jahre alt geworden. Während ich mich vor diesem Termin fürchte, hat Beate davon geträumt, ihn noch zu erleben.«
Ingrid und die anderen aus unserer Selbsthilfegruppe lehnten sich erleichtert zurück.
»Beate hatte seit drei Jahren Krebs. Ich stelle mir das so vor, als würde man in der Todeszelle sitzen und hoffen, dass die Hinrichtung noch ein paar Jahre, ein paar Monate, wenigstens ein paar Wochen aufgeschoben wird. Man lebt von Tag zu Tag. Darüber könnte man bitter werden und zornig. Warum gerade ich? Es gibt so viele böse Menschen: Diktatoren, Mörder, Kriegsverbrecher, die es verdient hätten zu sterben. Warum gerade ich? ›Lasst die Toten ihre Toten begraben! ‹ heißt es in der Bibel. Ein seltsamer Satz. Ich verstehe ihn so, dass der Tod die Lebenden nichts angeht. Weil er nicht der große Schlaf ist, das Ausruhen von den Zumutungen der menschlichen Existenz. Der Tod ist die Negation des Lebens. Ein schwarzes Loch. Das Nichts. Tot ist tot. Und sollte es, was ich nicht glaube, irgendwo einen Ort geben, wo wir wiedergeboren werden, zumindest gute Menschen wie Beate, dann hat dieser Ort hier auf Erden keine Bedeutung, weil wir ihn nicht kennen. Konzentrieren wir uns also auf das Leben, denn wir haben sonst nichts. Aber was bedeutet das? Es bedeutet, nicht immer zurückzublicken oder ständig nach vorn. So wie ich das die ganze Zeit tue wegen meines 50. Geburtstags. Was interessiert uns die Vergangenheit, die wir nicht mehr ändern können? Was die Zukunft, die wir noch nicht kennen? Das Einzige, was wir haben, ist die Gegenwart. Wobei das nicht so einfach ist mit der Gegenwart, denn sie ist flüchtig. In dem Moment, wenn uns bewusst wird, dass wir gerade einen interessanten Menschen kennenlernen, die erste Frühlingssonne auf unserer Haut spüren, über einen Witz lachen, wir glücklich sind – ist dieser Moment schon wieder vorbei. Ich hatte solch einen Augenblick mit Beate. Ich hoffe, sie ist nicht sauer, wenn ich Ihnen diese kleine Geschichte erzähle. Beate rief mich 12 Stunden vor ihrem Tod mitten in der Nacht an und bestellte mich ins Krankenhaus. Dort drückte sie mir eine Kamera in die Hand. Am nächsten Morgen sollte ihre linke Brust entfernt werden, weshalb sie mich bat, sie vorher noch einmal zu fotografieren. Ich habe mich geweigert. Aber Beate blieb hartnäckig, wie das so ihre Art ist.«
Zustimmendes Nicken der Kolleginnen.
»Erst war sie total verkrampft, dann ließ sie alle Hüllen fallen und zeigte mir, was sie hatte …«
Der Priester warf mir einen skeptischen Blick zu und signalisierte, endlich zum Ende zu kommen.
»Jetzt, wo Beate tot ist, bin ich froh, ihrem Drängen nachgegeben zu haben. Ich glaube nicht, dass das Leben eine Prüfung für später ist. Wenn wir so denken, nehmen wir unserem Leben seine Einmaligkeit. Das Leben ist das Leben. Gestorben sind nur die, die vergessen werden. Und ich werde nie vergessen, wie ich Beates Brüste fotografiert habe.«
Ich ging zurück zu meinem Platz, während die Vertreterin der NGO, die das Waisenhaus auf Kalimantan betreut, nach vorn kam, Beates Nachnamen falsch aussprach und die Gelegenheit nutzte, für die Unterstützung ihrer Organisation zu werben.
Ich beschloss, keinen Cent zu spenden.
Dann wurde Beates Sarg in das offene
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