Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
Richtungen habe. Ich kenne noch das ursprüngliche Segeln. Habe mir mit den Händen auf dem Vordeck das Segeln erarbeitet und damit verinnerlicht. Kenne aber auch die neue Seite: Rollsegel, GPS, automatische Piloten, die das Seesegeln einfacher machen.
Die Hansa-Jolle ist gutmütig und lässt Fehler zu, ohne gleich zu kentern.
Der Fluch der Eile und die allgegenwärtige Überforderung macht viele Menschen krank. Das ist ihr Problem, sie leiden. Viele glauben, mit Segeln diese missliche Lage überwinden zu können. Sie haben zwar eine tolle Uhr am Arm, aber keine Zeit. Ich denke, je virtueller die Welt wird, umso mehr wünschen sich die Menschen das Fassbare.
Und wirklich, eine Lösung ist, mit einem Boot auf dem Wasser zu sein. Das erlaubt mir für eine gewisse Zeit, weitgehend ohne Verpflichtungen zu leben. Segeln ist eine faszinierende, vielseitige Beschäftigung. Einen selbstbestimmten Kurs zurücklegen zu können, ist der Traum. In der Distanz zu unserem Alltag gewinnen wir Freiheit und Lust und Gesundheit. Kaum irgendwo sonst lässt sich besser »weg sein« als draußen auf See. Die Stille und eine gewisse Langeweile, wenn man mit einem Boot vor Anker liegt, sind das beste Mittel gegen Katatonie. Dazu passt eine Umfrage in Schweden: Segler fühlen sich nicht nur gesünder, sondern auch glücklicher und zufriedener als Nichtsegler.
Die Menschen, die sich bei mir melden, sind selbstverständlich auf Wasser, Boot und Segel fixiert. »Ich würde sooooo gerne segeln, wegsegeln, nur, wie fang ich es an?« – »Ich liege zur Zeit im Krankenhaus. Der Alltag hat mich krank gemacht. Was tun?« – Oder: »Mein altes Leben ist unter mir weggebrochen, ich möchte ein neues beginnen, etwas mit Boot und Meer.« – Oder konkret: »Ich suche ein Ziel, eine Herausforderung. Ein Boot habe ich, auch brauchbar für Kap Hoorn, nur traue ich mich nicht. Können Sie mir helfen?« – »Als normale Seglerin möchte ich den Alltagsstress achteraus lassen und mal auf dem Ozean in Stille und Weite treiben. Wie kann ich das umsetzen?«
All das sind Zitate aus Briefen, die mich erreichen. Hier noch einige Zeilen eines Zahnarztes, der unbedingt aufs Wasser möchte: »Einen ganzen Sommer lang auf Ihren Spuren auf der Ostsee … ganz simpel, ohne Motor und Telefon.« Und weiter: »Ich schmeiße meine Praxis hauptsächlich hin, um den berufsbedingten Papierkram und dieses ganze Trara loszuwerden. Ich bin an einem Punkt, wo ich Einsamkeit brauche, wo ich mich anhalten muss, um nicht zu denken und das, was man Leben nennt, mehr genießen zu können. Ich möchte einfach mal ohne Terminplan leben, im Cockpit liegen und in die Wolken schauen.«
Segeln als Rückzug verheißt ein anderes Klima, einen radikalen Bruch mit dem Alltag, einen Stimmungswandel und Freiheit für meinen Kopf. Klar, auch Freiheit für mein Leben. So empfand ich es schon immer. Wenn mir ein Ziel fehlt, mich Unzufriedenheit quält, mich gesundheitliche Schwächen plagen, mein Leben generell in einer Sackgasse steckt, kann Segeln mir helfen, den Schmerz zu vergessen. Schon der Gedanke daran führt zu einem Gefühl von Aufatmen. Ich erwarte Bilder von hohen Wolken, Bugwasser und Gischt und frische Luft. Segeln bedeutet auch wagen, selbst wenn es nur entlang der Küste geht. Dennoch schön: Die Hand an der Pinne, Wind in den Haaren, Bug und Heck markieren die Grenzen meines Reichs. Ist man ausgerüstet für viele Tage bedeutet das Unabhängigkeit und erfüllte Sehnsucht.
Und so verwandelt sich die Desasterstimmung, die jeder zunächst beklagt, genau zu dem, was ich als mehr Leben bezeichnen würde. Was alle glücklich machen würde, wäre der Raum. Denn was man mit einem Boot erwirbt, ist Raum, Leere, weites offenes Wasser. Und ein Ausmaß an Zeit, ohne in Zeitpflicht zu sein. Das ist viel wert. Und das findet man am ehesten mit einem Segelboot.
Einfach abhauen. Grenzenlose Freiheit winkt. Man muss sich nicht dem Diktat eines Fahrplans unterwerfen. Es ist schön, ein Boot ganz für sich allein zu haben. Niemand sagt dir, was du zu tun hast. Du segelst einfach, wann und wohin du willst. Weit weg und doch ganz nah. Die Wahrheit ist, dass man in dem Hafen oder der Bucht, auf die man zusegelt, glücklich sein wird. Das ist dann die beste Stimmung für einen wirklichen Aufbruch. Man ist willens und offen für alles.
Ist man aber in besagter »ausgebrannter« Verfassung, geht es meist nicht mal eben einfach auf und davon. Zumindest nicht mit einem Segelboot. Ein Boot, das
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