Von der Wüste und vom Meer: Zwei Grenzgänger, eine Sehnsucht (German Edition)
wies mir die Richtung.
Noch am gleichen Abend bezog die Militärstreife in einem einsamen, leerstehenden Haus ihr Nachtquartier. Um einen Holztisch sitzend, tranken die Soldaten heißen Tee und Raki-Schnaps gegen die Kälte, während ich draußen im Dunkeln hockte und über meine Lage nachgrübelte. Wie würde es mit mir weitergehen, wenn mich die Sicherheitsbeamten in Hakkari für einen Spion hielten? Keine Frage: Ich musste abhauen – und zwar schnell.
Als der Mond gegen Mitternacht hinter einer ausgedehnten Wolkenbank verschwand, schaute ich noch einmal durch das Fenster in den Raum, wo die Soldaten hockten, und vergewisserte mich, dass alle beschäftigt waren. Keiner dachte ernsthaft daran, dass ich mich aus dem Staub machen würde. Ein Umstand, den ich nutzte. Ganz leise nahm ich meinen Rucksack auf und folgte zwischen hohen Felsen einem steilen Pfad bergauf, zwängte mich durch einen Gesteinsspalt, der gerade breit genug war, dass ein Mensch hindurchkam – und tauchte im Zwielicht des Sternenhimmels unter, das mir gerade ausreichend Sicht bot.
Nach einigen Kilometern verlangsamte ich meine Schritte, blickte mich aber weiterhin wachsam um und verwischte meine Spuren, indem ich meine Stiefel auszog, die Hosenbeine hochkrempelte und einem kleinen Flusslauf aufwärts folgte.
Hinter einem höher gelegenen Seitencanyon, gut versteckt zwischen Büschen und Felsblöcken, suchte ich mir erschöpft einen Platz zum Ausruhen und fiel sofort in einen tiefen Schlaf.
Tags darauf traf ich auf einige Kurden, die allein oder in kleinen Gruppen unterwegs waren. Stolze Gestalten mit hohen Wangenknochen und Adlernase. Illegal, ohne sich um die Grenzlinien zu kümmern, wechselten sie von einem Staat in den anderen, so wie auch ich die kaum kontrollierten Grenzen mehrmals »schwarz« passierte. Dabei stieß ich gelegentlich auf kastenförmige Häuser, die am Hang klebten: Wohnstätten kurdischer Familien, die dunklen Höhlen glichen, kaum erleuchtet durch Kerzen und Petroleumlampen. Kinder mit kurzgeschorenen Köpfen und großen Rosinenaugen pressten ihre ernsten Gesichter von innen an die Plastikfolien, die vor die lukenartigen Fenster gespannt waren. Hier backten die Frauen den Brotteig noch an heißen Wänden großer Tonkrüge, wobei der dünne Teig erst dann von der erhitzten Innenwand abfiel, wenn er gar war.
Diese Dörfer waren von der Außenwelt völlig abgeschnitten, die Familien isoliert. Keine Straße führte hierher, nur winzige Pfade, auf denen allenfalls ein Maultier vorankam. Kein Wunder, dass die Zahl der Kranken in den kurdischen Dörfern enorm hoch war. Es fehlte an Ärzten und Medikamenten. Von 500 Neugeborenen starben 80 im ersten Lebensjahr. So wurde ich oft nach Tabletten und Salben gefragt. Doch meine Notapotheke war nicht groß. Nur bei Hals-, Magen- oder Darmbeschwerden konnte ich behilflich sein.
Weiter führte meine Route nach Nordosten zum iranischen Urmiasee (kurdisch: Gola Urmiyê), dessen Oberfläche vom sanften Wind leicht gekräuselt war. Es ist der größte Binnensee des Iran: 140 Kilometer lang und 55 Kilometer breit. Ein riesiger Steppensee mit mehr als 100 Inseln, der von Jahr zu Jahr mehr austrocknet und schrumpft. Ursache sind die geringen Niederschläge, das trockene Klima und der hohe Salzgehalt des Sees, der bis zu 30 Prozent beträgt, sodass am Ufer Unmengen von Salzkristallen liegen. Zudem gibt es hier kaum Tier- und Pflanzenarten. Gleichwohl gönnte ich mir nach tagelanger Katzenwäsche ein erfrischendes Bad im salzigwarmen Wasser, ehe ich den See verließ und es weiter gen Norden ging. Ich wanderte durch ein leeres Stück Land voller kahler Felsen und gesprenkeltem Steppengras. Nur hier und da ein paar Lehmhütten und eine stelzende Esel- oder Kamelkarawane. Doch wenn ich auf ein grünes Tal traf (allerdings nur sehr selten), wimmelte es dort von Schafen, die den Nomaden neben Nahrung auch Wolle für Zeltstoffe, Kleider und Decken liefern.
Entlang einer Bergregion mit über 3000 Meter hohen Gipfeln, die von den Einheimischen im Iran Kuh-e Zaki genannt wird, legte ich am Tag zwischen 20 und 30 Kilometer zu Fuß zurück. Mühsam stieg ich über brüchige Schotterpfade, ging Stunde um Stunde hinauf und hinunter, als ich in der Ferne auf ein paar winzige Punkte aufmerksam wurde. Sofort griff ich zum Fernglas und sah eine kleine Eselkarawane. Stämmige Maultiere mit Frauen im Sattel, die leuchtend grüne, rote und gelbe Kleider trugen. Feiner Staub wirbelte zwischen den
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