Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
Gehört sich so. Karin verbot sie es. Warum?, fragte die Tochter. Das verstehst du nicht, sagte Agnes. Agnes sagte: Meine Tochter Karin hat Sorgen, Karin ist einsam und traurig, kann mit niemandem reden. Agnes warf die goldene Halskette weg, die Odermatt einst schenkte. Agnes sagte: Karin ist zu dick, ihr Haar zu rot. Im Dorf hieß es: Die Karin ist ihrer Mutter aus dem Gesicht geschnitten.
Odermatt war dick.
Agnes wollte, dass Karin an Gewicht abnimmt. Um der Tochter zu helfen, hungerte die Mutter mit. Karin nahm zu, Agnes ab. Jedes Jahr im Herbst besuchte man die Herbstmesse in der Stadt, besuchte Odermatt an seinem Stand.
Gefüllte Kalbsbrust an Ostern.
Fondue chinoise an Weihnachten.
Russischen Salat an Silvester. Agnes gab ihren Söhnen zwanzig Franken, damit sie bis Neujahr zu Hause blieben.
P-17: Wie eine Explosion sei es gewesen, etwas ganz Inneres und ganz Tiefes, wie eine Stimme. Frau G. habe ihre Tochter Karin zu sich in die Küche gerufen, sie habe das Fleischermesser in der Hand gehabt, habe Karin in beide Unterarme geschnitten, die Tochter sei etwas weggegangen, sie habe sie am Pullover gehalten und sie zu Boden gelegt. Karin habe gar nichts gesagt, sich nicht gewehrt. Frau G. habe auch eine Schnur benützt, sie habe ihrer Tochter die Schnur um den Hals gebunden und ziemlich fest zugezogen. Auf Vorhalt gab Frau G. dann an, der Tochter auch Schnittwunden im Halsbereich beigebracht zu haben. Während der Einvernahme weinte Frau G. fortwährend.
Hat Ihre Tochter etwas gesagt? Hat sie geschrien?
Nein.
Haben Sie Ihrer Tochter etwas erklärt oder gesagt?
Nein.
Und dann?
Weiß nicht.
Denken Sie nach.
Ich weiß nicht mehr, wie es in der Küche aussah. Ich ging ins Badezimmer.
Und dann?
Dann steckte ich mir das Messer in die Brust.
Ja, sagt die Polizistin.
Ich steckte mir das Messer in die Brust, weil ich einmal ein Bild von Jesus sah. Jesus mit blutendem Herzen.
Alois schenkte Agnes eine Personenwaage. Agnes nahm acht Kilo ab. Jeden Samstag putzte sie Alois’ Schuhe, wischte den Parkplatz vor dem Haus am Dorfrand. Sonntags hängt man keine Wäsche ins Freie.
Man hätte doch über alles reden können, sagt die Mutter.
Haben Sie und Ihr Mann nie gestritten?
Es gab keinen Grund, sagt Agnes.
Eine allzeit glückliche Ehe?
Ja.
Ja?, fragt der Psychiater.
Ich bin nicht eifersüchtig.
Gab es Grund dazu?
P-22: Frau G. habe seit 1996 oft Anrufe bekommen, dass ihr Mann fremdgehe, und sie habe annehmen müssen, dass dem so sei. Frau G. habe eigentlich nie gewusst, um welche Frauen es sich handle, sie habe sich jeweils laut eingeredet, ihr Mann sei im Männerchor und nicht bei anderen Frauen. Ihren Mann habe sie nie auf die Drittbeziehungen angesprochen. Sie könne sich erinnern, dass einmal ein Brief gekommen sei von einem Mann aus L., der geschrieben habe, Herr Alois G. gehe mit seiner Frau fremd und jene leide an Aids.
Und? Hat Ihnen dies nichts ausgemacht?
Doch, sagt Agnes. Sie reibt die Hände. Ich… ich weiß nicht.
Es tat so weh.
Als Alois, der Chauffeur, vom Lastwagen auf einen Linienbus wechselte und eine blaue Uniform anzog, sagte Agnes’ Schwester im Spaß: Pass auf den Alois auf, Uniformen machen sexy. Agnes antwortete: Der Alois doch nicht. Ich bin nicht eifersüchtig. Nachts, wenn der Männerchor probte, stand Agnes am Fenster, das zur Garage ging. Sie stand und wartete und stand. In der Zeitung las Agnes von einem Kind, das beim Schwimmen ertrank. Agnes schickte Karin zum Schwimmen. Agnes reiste nach Einsiedeln, sprach mit einem Priester des Klosters. Sie sei verzweifelt, ihre Tochter so dick. Der Mönch sagte: Gott hat andere Sorgen. Agnes befahl Karin über gefährliche Straßen, auf eine hohe Leiter. Karin war zwölf, dann dreizehn, vierzehn. Agnes verbrannte Fotos, die Odermatt zeigten. Karin war so ein normales, lustiges Kind, sagt Agnes’ Mutter. Agnes fragte ihre Tochter: Möchtest du nicht Fallschirm springen? An manchen Morgen, wenn die Kinder aus dem Haus waren, stellte Agnes Kerzen auf den Stubentisch, ein Kreuz und Karins Bild. Dann betete sie: Liebgott, hilf mir doch.
P-23: Am 24.11.2000 hatte sich der Zustand deutlich gebessert, die Medikation wurde auf das Antidepressivum Surmontil ® umgestellt. Frau G. lehnte eine Psychotherapie ab.
Sprachen Sie mit Ihrem Mann über die Beziehungen, die er zu anderen Frauen hatte?
Ich hatte Angst, ihn zu verlieren.
Agnes schweigt.
P-23: Hinweise auf eine Geisteskrankheit oder eine schwere Gemütskrankheit ergaben sich
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