Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten

Titel: Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nagel & Kimche AG
Vom Netzwerk:
auf.
    Also, sagt er, also das, was ich nötig habe, das ist ja die große Frage. Das ist ja nicht am grünen Tisch zu beantworten. Ist bestenfalls zu erproben. Und das Ausloten und Erproben dauert an und wird über mich hinaus andauern, über meine irdischen Möglichkeiten. Es geht ja um / sagen wir mal / es geht in der Kunst um das Bezwingen der Erdanziehung. Die Erdanziehung ist mir suspekt. Die hat in der Kunst nichts zu suchen, auch nicht im konstruktiven Anarchismus.
    Antwortet Immendorff.
    Wenn er krank im Bett lag, machte er Knoten in die Taschentücher, Indianer. Jörg Immendorff zeichnete in Bücher, malte mit Wasserfarben, seinem Lehrer schlug er vor, ein Diktat, statt zu schreiben, zu zeichnen. Sonntags hielt er Krieg, bot Zinnsoldaten auf, der Vater spielte mit und ließ nicht zu, dass der Kleine gewann, Waterloo, Austerlitz, der Vater schnippte die Regimenter des Sohnes weg, Sonntag um Sonntag, der Kleine zeichnete Schlachtpläne, er wollte früh Maler werden, Künstler in Paris, wo man schwarze Rollkragen trug, Rotwein trank, der Lehrer verbot ihm, mit der linken Hand zu schreiben.
    Weinen Sie oft?
    Er ist dünn geworden, nicht leise, am linken Arm trägt er eine Uhr, der berühmte Immendorffsche Affe auf dem Zifferblatt, eine Fackel in der Hand, Affe und Biene sind Immendorffs Wappenvieh, bevölkern seine Bilder, Imme bedeutet Biene, Immendorff zögert, Trauer im Gesicht, vielleicht nur Müdigkeit, und sucht eine Antwort, die seine ist. Und also spricht Immendorff.
    Ja, ich kann weinen. Ich kann / ich habe gehadert, aber ich / ich habe / ich wusste, dass / und zwar durch Dinge, die in meinem Leben passiert waren zuvor / also harte Dinge / dass ich immer eine Möglichkeit bekam / also in den schwärzesten Momenten, wo nichts geht, wo man mit seinem Latein am Ende ist, wo wirklich nichts mehr geht / das soll mal genügen so.
    Er holt Luft, Immendorffs Lunge leistet das Drittel einer gesunden.
    Ich glaube, das Wichtige ist, dass man unbedingt aktiv werden muss, unbedingt / also man muss denkerisch / man muss das als Material nehmen / das klingt wohl kokett und lässig, ist es aber nicht / so / jeder von uns ist von irgendetwas krank. Und Sie können genauso gut sagen / also ich kenne Fälle, wo ich mich noch immer als höchst privilegiert empfinde, Sie müssen nur einmal durch die Neurologie gehen, wo junge Menschen sind mit großen Köpfen / was da alles an Hirntumoren ist / das macht es ja nicht harmloser / kann auch nicht zur Beruhigung / das Leid anderer dient ja nicht zu Beruhigung für einen, unterschwellig vielleicht doch, indem man sich sagt, es könnte ja noch viel schlimmer kommen. Und das sagt man sich, glaube ich, bis zum Schluss, ich weiß es nicht. Und dann kommt aber doch auch Dankbarkeit auf / was heißt aber schon Dankbarkeit? / ist doch auch so etwas bürgerlich Eingetopftes, in der bürgerlichen Plantage leider mehr zu Hause als da, wo es hingehört / eigentlich / weil es so oft strapaziert wird / auch / verlogen dann benutzt wird / aber wenn meine Tochter mir sagt, keine Sorge, Papa! / dann ist da –
    Immendorff weint nicht.
    Er war zu leicht, zu dünn, kränklich, seine Eltern brachten das Kind in ein Heim, 1956, Schwarzwald, Jörg Immendorff war elf Jahre alt. Und als er wiederkam, standen am Bahnhof von Bleckede nicht Mutter und Vater, sondern Bekannte, und die sprachen den Satz. Deine Mama ist im Krankenhaus, dein Papa hat euch verlassen. Immendorff begriff nicht, hatte keine Welt, die Mutter schickte das Kind in ein Internat nach Bonn, Ernst-Kalkuhl-Gymnasium, sechzig Betten in einem Saal, an den Wochenenden fuhren Limousinen vor und holten Immendorffs Kameraden ab, er rechte das Laub vom Fußballplatz, fand die neue Welt kindisch, Immendorff redete viel und laut, er zeichnete, um zu Schokolade zu kommen, die Zeichnungen der Mitschüler, Mama schickte Bücher über Picasso, Chagall, Cranach, Immendorff zeichnete das Titelblatt der Schülerzeitung, er meldete sich beim Theater der Stadt Bonn und war Statist, Immendorff stand auf der Bühne, leblos, mit einem Kerzenständer in der Hand, und brach in Tränen aus, wenn Trauer wallte, einmal schmiss der Mime Kinsky, der Hamlet auf eine Weise gab, dass das Publikum zu lachen begann und zu lärmen, den berühmten Schädel unter die Zuschauer, Immendorff vermutete darin nicht billige Wut, aber Kunst, großartig und genial, die Kameraden ritten Mopeds, Immendorff ein altes Fahrrad der Marke Vaterland, sie trugen Levi’s, er Namenloses,

Weitere Kostenlose Bücher