Von dieser Liebe darf keiner wissen - wahre Geschichten
erschrak, Jörg Immendorff wurde von der Schule gewiesen, 1968.
Mein Vater, der Offizier, war ein musischer Mensch, er spielte Schlagzeug und zeichnete Karikaturen, er saß gern in Cafés und machte dort den guten Mann, während meine Mutter zu Hause das zweite Hemd bügelte, ich glaube / nein / meine Eltern waren nicht schlimm.
So gut es geht, stützt Immendorff die Arme auf spitze Knie.
Eva, Eva, komm mal. Geh mal hier unter den Stapel, da muss das Foto meiner Eltern sein, weiter hinten, da, in dem umgekippten Rahmen.
Eine Kinderstimme im Treppenhaus, Immendorff dreht den Kopf.
Worunter, Herr Immendorff, leiden Sie am meisten?
Also, der linke Arm fällt ganz aus, stopp / ich will es nicht wie ein Metzger machen / also, wie viel vom Rind kann noch laufen?, oder was hängt schon am Haken? / Andersrum formuliert / wenn ich die Möglichkeiten / die Möglichkeiten, mit denen ich mich aufgrund meiner Krankheit vertraut machen musste, die hätte ich gerne, ohne die direkten Gebrechen, schon früher gehabt / ja / so / ich spreche nun von der Produktion der vergangenen zwei Jahre, wo ich mich in der Rolle eines Dirigenten sehe, meine Helfer grundieren, sie bereiten Schablonen vor, und ich setze die Noten, ich bin der Composer und der Conductor / ich greife noch direkt zum Pinsel / aber ich bin mehr zerstörerisch, ich arbeite, so komisch das klingt, bildnerisch destruktiv, und das wollte ich verdammt schon immer, aber bewusst ist das verdammt schwer / und mich hat immer gerettet dieses Quentchen zwischen Wollen und Können. Wenn ich den Stalin oder den Mao damals malte, weil der damals und heute nur auszuhalten ist, weil der schielte / oder weil die Zähne falsch gemalt waren / weil irgendwo in mir etwas saß / nein, nein, mein Junge, das willst du doch nicht wirklich, so ein Realist werden / weil die Bilder kippen / wenn Sie sich heute diese Bilder angucken, wie der Ho Chi Minh da durch die Luft fliegt und mit dem Ärmel einen US-Bomber zerfetzt, dann müssen all diese Jungmaler früh aufstehen, wenn die sich um Ironie bemühen.
Was bereuen Sie?
Die Kinderstimme im Treppenhaus, Immendorff horcht.
Es gibt / es gibt / etwas zu bereuen / weil mich das Zeit gekostet hat, die ich anders für anderes gerne genutzt hätte / und zwar in Phasen, wo ich mich selber nicht mehr ob dessen mochte, was ich vermochte / also, was ich arbeitete / sondern wo ich glaubte, die Belohnung / oder ich müsste den Claqueuren / also ich müsste den Erwartungen der Claqueure genügen und nicht primär meinen eigenen Ansprüchen. Und das hat mich auf Umwege gebracht / die also / nicht unbedingt in der künstlerischen Produktion / so mächtig waren die nicht aber / ich wurde mir selber unfair gegenüber / ich habe also mich selber nicht mehr genügend respektiert / also das, was in mir wert war, respektiert zu werden.
Er horcht.
Ida, komm mal hoch, Ida.
Das Kind kommt nicht.
Manchmal, sagt Immendorff, sitzt sie hier an ihrem Tischchen, dann arbeiten wir. Manchmal spielen wir Mutter und Kind, Ida ist die Mutter, ich bin das Kind, dann nimmt sie mich an der Hand und bringt mich in den Kindergarten / ja.
Immendorff schwingt den Arm ins Gesicht, fährt sich über die Stirn, Schnee fällt aufs gläserne Dach.
Wo waren wir?, fragt er.
Aus Brasilien zurück, wandte sich Immendorff an die berühmte Berliner Klinik Charité, er nahm nun Medikamente, die am Menschen kaum versucht worden waren, sie linderten nicht, Immendorff und die Charité riefen das Jörg-Immendorff-Stipendium aus, in der Hoffnung, jemand mache sich endlich daran, ein Mittel gegen ALS zu erforschen, mindestens drei Millionen Euro will Immendorff sammeln, indem er Freunde aufbietet zu einer Gala, Ende Jahr vielleicht, Grass, Bausch, Ferres, Barenboim, Baselitz, Schlingensief und Konsorten. Den Zeitungen richtete er aus: Mit Immendorff als Galionsfigur sorge ich dafür, dass eine bisher unbekannte Krankheit in Deutschland ein Gesicht bekommt.
Eines Tages werden Sie sich entscheiden müssen, ob man Sie beatmen soll.
Ich möchte, sagt er laut und fest, mich beatmen lassen. Ich will alles ausnutzen, jede Möglichkeit, jede Ressource, ich kann nicht anders denken / als das Optimale auszuschöpfen, anders geht das nicht / dieser Welt gegenüber / dieses Gedankliche / also / die Gedanken peitschen einem ja durchs Gehirn, es gibt ja verschiedene Gedanken mit speziellen Charakteren, es gibt Gedanken mit Widerhaken, Gedanken wie ein schneller Hauch, solche in Zeitlupe / das sind Dinge,
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