Von Fall zu Fall
bereit halten, aber schon um neun schloß er ab und hörte dann Radio. Nach Mitternacht durfte er sich hinlegen. Manchmal wurde er nachts herausgeklingelt, meistens nur zum Tanken.«
»Weiter«, ermunterte ich sie, als sie schwieg.
»Sehr viel gibt's nicht mehr zu erzählen«, fuhr sie fort. »Am Morgen des Sechsten, etwa um Viertel nach sieben Uhr, ging ich in die Garage, um Tom abzuholen... Er hatte mich noch nicht erwartet.«
»Sie meinen, daß eine andere Frau da war?«
»Da gewesen war, jawohl.«
»Woran merkten Sie das?«
»An vielen Kleinigkeiten.«
»Können Sie mir ein paar nennen?«
Sie überlegte einen Moment. »Ein paar«, sagte sie dann.
»Also los! Welche denn?«
»Er hatte die Kaffeetassen nicht abgewaschen«, sagte sie. »An einer waren am Rande Spuren vom Lippenstift zu sehen. Im Waschbecken war warmes Wasser. Tom rasierte sich gewöhnlich um Viertel nach sieben, kurz bevor er die Arbeitsstelle verließ, damit er sauber rasiert mit mir zum Frühstück gehen konnte. Diesmal waren an seinem Rasierspiegel Lippenstiftflecke.«
»Wie soll ich das verstehen?« fragte ich.
»Sie hatte vor seinem kleinen Rasierspiegel ihre Kosmetik gemacht, und so kam das eben.«
»Aber wieso konnte dabei der Spiegel fleckig werden?«
»Sie wissen doch sicher, wie Frauen ihre Lippen färben? Es wird etwas Lippenstift aufgetragen und dann mit dem kleinen Finger nachgezogen.«
»Ich verstehe. Bitte weiter.«
»Na, dann war doch ihr kleiner Finger voll Lippenstiftfarbe, und sie hat anschließend sicher den Spiegel hochgenommen, um zu sehen, ob sie ordentlich aussah, bevor sie fortging. Daher sind an der Stelle auf der Rückseite des Spiegels, die ihr kleiner Finger berührte, Flecke entstanden.«
»Interessant. Auf der Rückseite also«, sagte ich. »Und was wurde mit dem Spiegel?«
»Ich habe ihn mitgenommen.«
»Wo ist er jetzt?«
Sie stand auf, ging durchs Zimmer, nahm aus einem Schubfach eine Handtasche und überreichte mir einen dieser doppelseitigen Rasierspiegel, die man überall billig kaufen kann — ein ziemlich primitives Ding mit einem Drahtbügel zum Herumdrehen, die eine Seite mit normalem Spiegel, die andere mit einem etwas konkaven, in dem man sich vergrößert sah.
»Sie hatte die Seite benutzt, die vergrößert«, sagte Edith. »Und hier, auf der Fläche des einfachen, können Sie die roten Abdrücke ihres kleinen Fingers sehen.«
Ich studierte diese Seite des Spiegels und entdeckte nicht nur mehrere flüchtige Abdrücke des kleinen Fingers, sondern auch einen ganz vollständigen, mit allen Rillen und Wirbeln. Und noch einen nicht ganz so deutlichen, aber auch identifizierbaren.
»Haben Sie ein Stück durchsichtiges Klebeband hier?«
»Ich glaube, ja.«
»Holen Sie's, bitte.«
Sie brachte es mir. »Was wollen Sie denn damit machen?«
»Das will ich Ihnen sogleich zeigen.«
Ich schnitt ein paar kurze Streifen von dem Band und klebte sie über die Abdrücke auf dem Spiegel.
»Und wozu das?«
»Schreiben Sie hier die Anfangsbuchstaben Ihres Namens hin und
das Datum.«
Sie tat, wie ich sie geheißen hatte.
»Auf diese Weise sind die Abdrücke vor dem Verschmieren geschützt«, erklärte ich. »Es ist ein Wunder, daß die nicht in Ihrer Handtasche schon abgewischt wurden. Warum haben Sie eigentlich den Spiegel in Verwahrung genommen?«
»Tom weiß nicht, daß ich ihn habe«, antwortete sie; »Ich warf ihm vor, er hätte eine Frau bei sich gehabt. Zuerst stritt er das ab, und nachher sagte er, hereingekommen sei sie gar nicht, sie hätte vielmehr an der Tür gewartet, während er sich anzog. Er hätte etwas I Kaffee auf gegossen und ihr, als sie darum bat, auch eine Tasse gegeben, und zwar an der Tür. Sie hätte die Tasse ausgetrunken, die .er ihr abnahm, nach hinten brachte und auf den Tisch stellte.«
»Na und?«
»Während er mir dieses Märchen erzählte und die Bewegungen vormachte, ergriff ich den Spiegel als Beweis und tat ihn unbemerkt in meine Handtasche.«
»Und dann?«
»Dann ließ ich Tom stehen und ging. Nachdem ich ihm gesagt hatte, er könnte ja, falls er bereit sei, mir die Wahrheit zu erzählen, versuchen, mich wiederzufinden. Mit uns wäre es endgültig aus — und im Augenblick glaubte ich das selber.«
»Nun, und was unternahmen Sie daraufhin?«
»Ich fuhr per Anhalter nach Central Creek, wo ich zum Frühstück in das Café ging. Die Wirtin, Dorothy Lennox, bediente selbst ihre Gäste. Sie war ganz durchgedreht, weil sie auch die ganze Nacht schon allein
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