Von Feuer und Nacht
ausgesetzt, das ihr nichts anhaben konnte. Die Sprecherin der Roamer-Clans wirkte wie ein überraschtes Kind, das wortlos staunte. Doch mit seinen nackten Füßen fühlte Jess ungewöhnliche Vibrationen und so starke Erschütterungen, dass sie sogar die dicke Kruste durchdrangen. Die Wentals in ihm schienen plötzlich besorgt zu sein. Es droht Gefahr. Das hiesige Wasser ist zornig. Etwas, das von uns getrennt ist... Erneut drückten sich die Wentals sehr geheimnisvoll aus. Jess konnte es gar nicht abwarten, die Wasserminensiedlung unter dem Eis zu erreichen.
Voller Unbehagen führte er Cesca zum nächsten Liftschacht. Die Luftschleuse war von innen her mit Gewalt geöffnet worden, und draußen auf dem Eis schien jemand eimerweise rote Farbe verschüttet zu haben, die einen eisenharten roten Film auf dem Boden bildete. Fetzen aus durchsichtigem Gewebe lagen verstreut, wie geplatzte und weggeworfene Polymerbeutel.
Die Kontrollen der Luftschleuse zeigten an, dass sich der Lift automatisch versiegelt hatte, als er dem Vakuum ausge setzt worden war. Jess musste einen anderen Weg nach unten finden.
»Komm.«
Er sammelte Wental-Energie und brachte Cesca bei, wie man die Moleküle aus gefrorenem Wasser beiseiteschob und wie an einem Fallschirm schwebend durchs Eis sank. Es hätte für sie eine weitere des Staunens würdige Erfahrung sein sollen, aber ihre Besorgnis wuchs ebenfalls, als sie die heftigen Vibrationen von unten fühlte.
Als sie die Höhle unter dem Eis erreichten, erwartete sie eine Szene des Chaos. Es krachte immer wieder, und entweichender Dampf zischte. Wasser spritzte aus aufgeplatzten Brunnenrohren. Eisbrocken lösten sich aus der Decke, als eine enorme Kraft immer wieder dagegenhämmerte. Hier unten war es nicht mehr so hell, wie Jess es in Erinnerung hatte. Er sah leere Krater dort, wo sich zwei künstliche Sonnen befunden hatten. Roamer liefen umher, schrien und suchten nach Deckung. Mehr als ein Dutzend Leichen lagen auf dem Boden, die meisten von Eis umschlossen. Cesca deutete auf einige scharlachrote, wurmartige Geschöpfe, die übers Eis glitten und die Roamer verfolgten.
Wieder krachte es in der Eisdecke, und Jess und Cesca drehten sich um. Die Dunstschwaden lichteten sich ein wenig, und plötzlich sahen sie das Zentrum des Durcheinanders.
Als Jess sie aus der tiefen Gletscherspalte geholt hatte, war Karla Tamblyn von Eis umgeben gewesen. Als er sie jetzt lebend sah, aber völlig verändert... Erinnerungen erwachten in ihm, an die schmerzlichen letzten Gespräche mit ihr, als sie langsam starb, als die Kälte ihr das Leben nahm. Jetzt war seine Mutter Fleisch gewordener Zorn. In ihrem Gesicht und in der fast greifbaren Aura, die sie umgab, sah Jess die gleiche schreckliche, blinde Zerstörungswut, die ihm die Wentals in den Erinnerungsbildern des ildiranischen Septars und der Klikiss-Brüterin gezeigt hatten - den Zorn eines verdorbenen Wentals. Er spürte, wie sich die Wasserentitäten in ihm bewegten, fühlte ihren Abscheu. Ihm wurde das Herz schwer, als er begriff, was mit seiner Mutter geschehen war. Aber das Wie blieb ihm ein Rätsel.
Karlas Haut war weiß. Gesicht und Arme wirkten wie aus Eis gehauen, doch in den Augen brannte ein unheilvolles Feuer. Verdorben. Als sie ihn sah, blieb ihr elfenbeinfarbenes Gesicht zunächst leer. Dann veränderte es sich und zeigte Erkennen.
Energie knisterte um sie herum, als Karlas Stimme erklang. Es lag nicht einmal ein Hauch von Wärme darin. »Willkommen daheim, Jess.«
62 NIRA
Nira empfand es als beunruhigend, auf ihr eigenes Grab zu blicken. Udru'h hatte ihren »Tod« verkündet, und alle hatten ihm geglaubt. Kein Ildiraner würde das Wort eines Designierten in Zweifel ziehen, und die Menschen hatten keinen Grund gehabt, eine Lüge für möglich zu halten.
Die traditionelle Gedenktafel bestand aus einem geometrisch geschnittenen Stein mit einem kleinen Sonnenenergiewandler, der ein Hologramm ihres Gesichts erzeugte. Das Bild stammte aus den Zuchtaufzeichnungen, und Nira betrachtete es. Vom ersten Augenblick auf Dobro an hatte sie alt und ausgezehrt ausgesehen.
Die neben ihr stehende Osira'h schwieg, als Nira in die Hocke ging und das trockene Gras an den Beinen spürte. Sie strich mit den Fingern über den Boden, wie auf der Suche nach ihrem eigenen verlorenen Leben im Grab.
»Ich bin meinem Vater zum ersten Mal am Hang dieses Hügels begegnet«, sagte Osira'h ernst. »Der Weise Imperator kam, um dein Grab zu sehen - ich glaube, deshalb
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