Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Büros. »Tun Sie doch etwas. Geben Sie ihr irgendwas.«
Doktor Gilyard dachte einen Augenblick nach. »Das hier ist ein Gefängnis, Emily, kein Krankenhaus.«
Das war wie ein Fausthieb.
Als ich das Gesicht abwandte, redete sie weiter. »Erwartest du das denn von mir, Emily? Dass ich dich wieder hinkriege?«
Ich stand auf und ging zum Fenster. Es regnete, deshalb konnte ich nichts sehen. Viel zu sehen gibt es sowieso nicht, nur Mauern und Zäune mit Stacheldraht. Aber wenn man den Kopf schräg hält, kann man etwas vom Himmel erkennen. Einen schmalen Streifen. Normalerweise der einzige Fetzen Himmelblau, den ich zu Gesicht bekomme. Doch heute nicht. Heute war alles grau. Der Himmel, die Mauern, der Stacheldraht. Alles grau, grau, grau.
»Naomi sagt, dass Vals Mutter gestorben ist, als sie noch klein war.« Ich wusste, dass Doktor Gilyard darauf keine Antwort geben würde. Trotzdem war ich ein kleines bisschen enttäuscht, als sie tatsächlich schwieg. »Aber es ist doch schon eine Ewigkeit her. Sollte sie inzwischen nicht darüber hinweg sein?«
»Kummer ist hartnäckig, Emily.«
»Naomi sagt, sie hat extra irgendwas geklaut, um wieder hier drinnen zu landen.« Ich fuhr mit meinem Finger den Fensterrahmen entlang. »Warum sollte jemand denn so etwas tun? Warum an einen Ort wie diesen hier zurückwollen?«
»Was glaubst du, warum jemand das wollen könnte, Emily?«
Ich starrte eine Weile in den Regen hinaus, beobachtete, wie die dicken Tropfen auf der anderen Seite der Scheibe sich unablässig jagten.
»Ihr Leben muss echt beschissen sein, wenn sie lieber hier drin ist.«
Doktor Gilyard schwieg lange, dann sagte sie: »Wenn Menschen für eine lange Zeit hier drinnen gelebt haben, fällt es ihnen mitunter schwer, sich wieder in der Welt da draußen zurechtzufinden. Sie kommen nach Hause und stellen fest, dass es nicht mehr dasselbe Zuhause ist wie zuvor. Ihr Zuhause ist nicht mehr dort, wo es früher einmal war.«
Mir war, als würde sich ein eiserner Ring um meine Brust legen, deshalb verschränkte ich unwillkürlich die Arme, als könnte ich das Gewicht so leichter ertragen. Was nicht der Fall war. Je länger ich über Val nachdachte, desto stärker tat es weh. Sie ist erst siebzehn, ihr Leben sollte sich eigentlich wie ein roter Teppich vor ihr ausrollen. Es sollte nicht aus einem Stuhl hier im Fernsehzimmer bestehen, umgeben von Mädchen, die nicht einmal merken, dass sie da ist. Das darf einfach nicht sein. Es muss doch noch einen anderen Ort für sie geben, einen Ort, an dem man sie vermisst; wo jemand auf sie wartet.
»Man sagt immer, dass das Zuhause nicht der Ort ist, wo man lebt«, sagte ich, »sondern der Ort, wo man verstanden wird.«
Ich hörte, wie Doktor Gilyard sich auf ihrem Stuhl bewegte, hörte das Kratzen ihres Absatzes auf dem Linoleum, als sie die Beine übereinanderschlug, und hielt den Atem an.
»Vielleicht muss sie den Ort erst noch finden, wo sie verstanden wird, Emily.«
[zurück]
I ch hasse das. Deshalb erzähle ich Doktor Gilyard auch nicht groß irgendwelche Sachen. Es ist drei Uhr morgens, und ich sitze im Waschraum und schreibe dies hier auf, weil ich in meinem Zimmer kein Licht anmachen darf. Ich hab gelogen und der Pflegerin erzählt, ich könne nicht schlafen, weil ich noch eine Hausaufgabe für Doktor Gilyard zu machen hätte – was ja irgendwie auch stimmt –, und deshalb meinte sie schließlich, ich solle mich dann eben hier reinsetzen, solange ich will. Nur die Tür darf ich nicht abschließen.
Ich bin so müde, dass ich meine eigene Handschrift nicht mehr entziffern kann. Wahrscheinlich werde ich das alles morgen lesen und es wird ein riesengroßer Quatsch sein, aber im Moment finde ich es klar und sinnvoll und durchdacht.
Nachdem wir heute in der Sitzung über Val gesprochen hatten, reichte mir Doktor Gilyard ein Buch über den Tisch.
»Wo haben Sie das denn gefunden? Ich hab gedacht, ich hätte es verloren«, fragte ich.
»Im Fernsehzimmer.«
»Ich muss es gestern dort liegen gelassen haben.«
»Passiert dir das oft?«, fragte sie.
»Was?«, fragte ich zurück und fuhr mit dem Finger über das Cover.
»Dinge zu verlieren.«
Ich kicherte in mich hinein. Ich verliere mindestens einmal in der Woche etwas. Sogar an einem Ort wie hier gelingt mir das. Ich stelle meine Teetasse irgendwo ab und weiß dann nicht mehr, wo. Oder ich lasse meine Schuhe unter einem Stuhl stehen und finde sie nicht mehr.
»Onkel Alex sagt, dass ich total schusselig
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