Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
besonderen Pläne damit, ich wollte ja nur, dass es ihr fehlte. Bis ich eines Nachts, als ich überhaupt nicht einschlafen konnte, verzweifelt nach Lesestoff suchte. Ich nahm es, schlug es auf und fing an, darin zu lesen. Keinen Schimmer mehr, wovon es handelte. Da fiel beim Umblättern auf einmal das Foto heraus, und mein Herz begann zu rasen.
Ich hob es vom Boden auf, drehte es um, und da waren sie zu sehen: Juliet, ihre Mutter und ihr Vater. Ich wusste nicht, was tun. Ich fühlte mich wie die alte Frau aus dieser Antiquitätensendung im Fernsehen, die plötzlich erfährt, dass die unscheinbare Brosche ihrer Großmutter ein Vermögen wert ist. Deshalb starrte ich es erst einmal nur an.
Juliet war darauf noch ganz klein – drei, vielleicht vier Jahre alt –, aber an ihren großen Augen und wilden Locken erkannte ich sie sofort. Wahrscheinlich war es ihr Geburtstag. Das grüne Kleid, das sie anhatte, erinnerte mich an eines von mir selbst in diesem Alter, nur dass man mir noch eine Schleife um den Bauch gebunden und eine rosa Seidenblume angesteckt hatte. Die kleine Juliet lachte, bestimmt tanzte sie gerade, und ihre Mama und ihr Papa klatschten. Ihr Vater war darauf natürlich jünger, aber er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe. Ihre Mutter allerdings hatte ich vorher nie gesehen. Sie war dünn, viel zu dünn, und die Adern auf ihren Handrücken traten dick wie Seile hervor. Um ihren Kopf hatte sie ein bunt gemustertes Seidentuch geschlungen, und ich begriff auf einmal, dass es das letzte Foto sein musste, das sie alle drei zeigte.
Keine Ahnung, warum Juliet es doch hatte. Vielleicht hatte sie es bei sich, als sie in jener Nacht auf meinen Vater einstach. Vielleicht trug sie es ja immer mit sich herum, in irgendeinem Geheimfach ihres Geldbeutels. Oder vielleicht hatte sie jemanden vom Zeugenschutzprogramm darum gebeten, es für sie aus dem Haus zu holen.
Egal, jedenfalls gab es das Foto, und ich hielt es in der Hand.
Der Schock, den es bei mir ausgelöst hatte, ließ allmählich nach, und ich langte in meine Tasche, suchte dort hektisch zwischen leeren Zigarettenpackungen und zusammengeknüllten Taschentüchern nach meinem neonrosa Feuerzeug. Kaum hatte die Flamme die Ecke des Fotos berührt, fing es Feuer und begann sich aufzurollen. Die Flamme war orange, da erinnere ich mich, ein helles Orange, und fasziniert schaute ich zu, wie sie das Foto in einem heißen Atemzug auffraß.
Als die Flammen meine Finger erreichten, rannte ich in das Badezimmer und ließ den Rest des Fotos ins Waschbecken fallen. Von allen Erinnerungen, die mich nachts quälen, ist es das Bild mit der verkohlten Fotografie im Waschbecken, das sich mir am stärksten eingebrannt hat. Wenn ich jetzt die Augen schließen würde, hätte ich es sofort vor mir. Manchmal, wenn ich an sie denke, wenn ich daran denke, was ich getan habe, frage ich mich, ob mein eigenes Herz wohl auch so aussieht, ob es so verbrannt und schwarz ist.
[zurück]
V al ist wieder da. Als ich heute Morgen nach dem Frühstück in das Fernsehzimmer gegangen bin, saß sie da und starrte in die Glotze, als wäre sie nie weg gewesen.
»Wie kommt es, dass sie wieder da ist?«, fragte ich Doktor Gilyard, als sie wissen wollte, wie es mir ging.
»Valerie ist heute früh wieder bei uns eingeliefert worden.«
»Warum? Ich dachte, sie hätten sie auf Bewährung freigelassen?«
»Haben sie auch.«
»Warum ist sie dann wieder da? Ihr verdammter Stuhl ist ja noch warm.«
Doktor Gilyard schlug ihr Notizbuch auf. »Warum regt dich das so auf, Emily?«
»Ich rege mich nicht auf«, sagte ich, aber es kam lauter aus meinem Mund, als ich vorgehabt hatte. Ungefähr so, wie wenn man eine Tür zuknallt. »Ich hab gedacht, es ginge ihr besser. Ich hab gedacht, deshalb hätte man sie nach Hause gehen lassen.«
»Was meinst du mit ›besser‹?«
»Besser. Einfach besser eben. Na, Sie wissen schon. Nicht mehr verrückt. Ich hab gedacht, Sie hätten das bei ihr wieder hingekriegt.«
»Glaubst du, das mach ich hier mit euch, Emily? Euch wieder hinkriegen?«
Ich konnte nicht mehr still sitzen bleiben. Meine Haut juckte, mein Blut brodelte. »Wenn Sie das nicht machen, was machen Sie denn dann?«, fragte ich und zerrte an dem losen Faden unterhalb der Sitzkante. »Warum versuchen Sie den Leuten nicht zu helfen?«
»Das tu ich doch, Emily.«
»Tun Sie nicht! Sie ist wieder hier und starrt in die Glotze!« Ich beugte mich vor und zeigte auf die Tür ihres
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