Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
Aber zum Glück blieb sie reglos sitzen.
Ich nickte mit dem Kinn zu dem Buch, das sie in der Hand hatte. »Was liest du da gerade?«
Sie klappte es zu und hielt es hoch, damit ich das Cover sehen konnte.
Wer die Nachtigall stört
.
»Atticus erschießt gleich den Hund«, sagte sie. Und deshalb wird vielleicht alles gut – des schwebte unausgesprochen zwischen uns.
Wir saßen ein paar Minuten nebeneinander auf dem Boden. Juliet starrte auf den Buchumschlag mit dem gezeichneten Vogel mitsamt rotem Fleck, und ich starrte auf sie, wie sie auf den Buchumschlag mit dem gezeichneten Vogel mitsamt rotem Fleck starrte.
Manche Mädchen sind in so was richtig gut. Juliet zum Beispiel. Wenn wir zusammen aus sind, bei einem Gig oder in einer Kneipe, und sie irgendwann verschwunden ist, schickt Sid mich regelmäßig auf die Damentoilette, um dort nach ihr Ausschau zu halten. Da finde ich sie dann auch meistens. Normalerweise lehnt sie neben einem in Tränen aufgelösten fremden Mädchen am Waschbecken, deren Freund gerade mit einer anderen abgezogen ist, den Arm tröstend um ihre Schulter gelegt. Echt bewundernswert, wie sie das kann. Mit fremden Leuten reden und sie trösten. Keine Ahnung, woher sie das hat, aber sie weiß einfach immer, was sie sagen muss. Weiß, wie man jemandem über die Haare streicht, ohne dass es peinlich wirkt. Wann sie etwas sagen muss und wann sie einfach nur zuzuhören braucht. Die Wahrheit ist, dass Juliet der netteste Mensch ist, den ich kenne. So nett, dass ich sie manchmal schütteln möchte. Irgendwann muss ich doch einmal auf ihren harten Kern stoßen.
Ich weiß, dass es ihn gibt.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich schließlich.
Sie schüttelte den Kopf und schniefte. »Kann man nicht sagen.«
Ich begann wieder, an dem losen Knopf meiner Jacke herumzufingern. »War es so schlimm?«
Da schaute sie mich an. Ihre Wimperntusche war verschmiert, aber sie sah trotzdem nicht hässlich aus. Sie sah verletzlich aus. Sogar wenn sie geheult hatte, war sie schön. Sogar wenn etwas in ihr kaputtgegangen war.
»Weißt du, wie das ist?«, fragte sie leise, als würde sie mir ein Geheimnis anvertrauen. »Wie das ist, wenn du glaubst, alles sei wunderbar, und dann findest du heraus, dass das nicht stimmt?«
Ich musste an meinen Vater denken und hätte beinahe laut aufgelacht. Ich hatte einmal so viele Träume gehabt. Vorher. Vor ihr. Ich wollte in Paris leben und an der Straßenecke Cello spielen, für ein paar Münzen und den Beifall der Passanten. Solche Träume hatte ich jetzt nicht mehr.
Ich versuchte, aufmunternd zu lächeln. Manchmal frage ich mich, ob sie es wohl spürte – die Bitterkeit, die in mir wütete und aus mir herausbrach, die mir aus allen Poren blutete. »Ja.«
»Es bricht einem dabei immer ein Stück das Herz. Findest du nicht auch?«
Ich nickte und zerrte so fest an dem Knopf meiner Jacke, dass der letzte Faden abriss. »Das Leben ist immer anders, als du glaubst, Nancy. Und du kriegst nie alles, was du haben möchtest.«
Wahrscheinlich hätte ich ihr etwas Tröstlicheres sagen sollen, aber ich wollte sie gar nicht trösten.
Sie schaute mich an, und ich war überzeugt, dass sie in Tränen ausbrechen würde. Aber sie lächelte. »Danke.«
Ich blickte sie verwirrt an. »Wofür?«
»Dafür, dass du mich nie anlügst.«
Ich nickte. Es hätte mich fast umgehauen. Was für ein Moment. Ich musste den abgerissenen Knopf in meiner Hand fixieren, damit sie nicht merkte, wie meine Augen auf einmal funkelten. »Jeder erzählt einem Lügen, Nance.«
»Aber deine sind wenigstens wahr.«
[zurück]
I ch weiß, ich habe geschrieben, dass ich vorsichtig sein musste. Dass ich nicht zu weit gehen durfte. Aber einmal habe ich es getan. Ich bin zu weit gegangen. Ich glaube, ich schäme mich im Großen und Ganzen nicht dafür, was ich ihr angetan habe. Aber für diese eine Sache schäme ich mich vermutlich schon, sonst hätte ich es schon früher aufgeschrieben. Etwas in mir muss nicht gewollt haben, dass ich diese Tat für immer dem Papier anvertraue. Doch du sollst es wissen, falls du vielleicht tatsächlich glaubst, ich hätte irgendwann die Kontrolle verloren. Ich hätte mir von einem hübschen Typen den Kopf verdrehen lassen.
Du sollst wissen, wozu ich fähig bin.
Juliet hatte doch ein Foto. Sie hat es mir nicht gezeigt, ich fand es zufällig zwischen den Seiten eines Buchs, das ich ihr weggenommen hatte. Das Buch lag schon wochenlang bei mir herum. Ich hatte keine
Weitere Kostenlose Bücher