Von ganzem Herzen Emily (German Edition)
»Hast du auch manchmal dieses Gefühl, Ro? Dass überall etwas geschieht und alle ihr Leben leben – nur du stehst daneben und schaust zu?«
Ich musste an ihn und Juliet denken, wie sie im Sushi-Restaurant saßen und kicherten, während sie sich die Teller vom Transportband schnappten. »Die ganze Zeit.«
»Dann lass uns etwas unternehmen.«
»Was?«
»Irgendwas. Jedenfalls nicht länger hier herumsitzen.«
»Okay«, sagte ich und sprang von der Brüstung hinunter. »Ich hab eine Idee.«
In seinen Augen blitzte es auf. »Was denn?«
»Bleib hier, okay? Rühr dich nicht vom Fleck. Ich bin gleich wieder da.«
Und dann rannte ich bis zum Kiosk auf der anderen Seite des Parks.
Als ich zurückkam, stand Sid immer noch an derselben Stelle und wartete auf mich. Er lächelte, als er die blaue Plastiktüte in meiner Hand sah. »Was ist da drin?«
Ich grinste. »Wirst du schon sehen. Komm mit.«
Dann ging ich zum größten Baum im Park. Er folgte mir. Als ich darunter stehen blieb, blickte er erst in die Baumkrone hoch und dann leicht verstört auf mich. Ich steckte die Rose und mein Skizzenbuch in die Plastiktüte. »Was soll das denn werden?«
»Na, das ist ein Baum, Sid.«
»Das sehe ich. Aber was hast du vor?«
»Wir klettern hoch.«
Er blickte mich misstrauisch an. »Wir machen was?«
»Na, hochklettern.«
Ich machte mich bereit und musterte den Stamm. »Mit ›was zusammen machen‹ hab ich in eine Kneipe gehen oder so was in der Art gemeint, Ro«, sagte er. »Was trinken. Vielleicht etwas Shit rauchen.«
Aber ich hörte gar nicht hin und versuchte, einen Halt für meine Füße finden. Ich machte meine ersten Griffe. Das letzte Mal war ich in St. Jude’s auf einen Baum geklettert, deshalb brauchte ich ein paar Anläufe, bis es klappte. Doch dann kam ich hoch genug, um erst einen Ast zu erreichen und dann den nächsten und den nächsten. Die blaue Plastiktüte an meinem Handgelenk raschelte jedes Mal, wenn ich mit der rechten Hand höher griff. Es klang wie Applaus.
»Das mach ich nicht«, rief Sid von unten. »Ich kann nicht auf Bäume klettern.«
»Natürlich kannst du das«, rief ich zurück, während ich mit den Füßen nach einem neuen Halt suchte.
»Ich bin ein Großstadtgewächs, Ro. Hier in London gibt es zwar Parks, aber nur damit wir überhaupt wissen, wie ein Baum aussieht. Wenn du von mir verlangen würdest, die Fassade von einem McDonald’s hochzuklettern, dann vielleicht –«
»Jetzt komm schon rauf, du Pflänzchen«, rief ich und testete einen der dickeren Äste. Kein Problem. Er konnte mein Gewicht mühelos tragen, deshalb schwang ich mich darauf. Ich lachte, als ich es geschafft hatte. Ein atemloses, glückliches Lachen. Meine Hände waren aufgeschürft und meine Fingernägel total ruiniert, aber es fühlte sich unglaublich gut an, dort oben zu sitzen. Als ob mir ganz London zu Füßen läge.
Dann griff ich in die Plastiktüte und zog eine Dose Bier heraus. Mit einem breiten Grinsen winkte ich damit zu Sid hinunter, und sobald er das Bier sah, probierte er auf Teufel komm raus auch, den Baum hochzuklettern. Als er dabei mit dem Fuß abrutschte, erst einmal, dann ein zweites Mal, klopfte mir das Herz bis zum Hals, aber schließlich hatte er es auch geschafft. Ein Beweis dafür, was ein männlicher Teenager für eine Dose Bier alles auf sich zu nehmen bereit ist.
»Du bist ja wohl komplett durchgeknallt, Rose Glass«, schimpfte er außer Atem, nachdem er sich auf den Ast neben meinem hochgezogen hatte. Es dauerte noch einen Moment, bis er das Gleichgewicht gefunden hatte. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und streckte die Hand aus. »Ich hätte mir fast den Hals gebrochen. Deshalb her jetzt mit meinem Bier. Das hab ich mir verdient.«
Mit einem Grinsen reichte ich es ihm. »Hier, mein Tarzan.«
Sid öffnete die Dose und wollte gerade zu einem tiefen Schluck ansetzen, als er auf einmal innehielt und in die Ferne schaute.
»Ja«, sagte ich stolz. »Genau deswegen.« Ich holte mir auch eine Bierdose aus der Tüte. Ich musste daran denken, wie ich das erste Mal auf den Baum in Brighton geklettert war; wie ich von dort aus Dinge entdeckt hatte, die ich nie zuvor gesehen hatte. Geheimnisse, von denen nur ich wusste. Ich und die Möwen.
»Man kann richtig weit sehen!«
»Ja.«
»Man sieht sogar The Gherkin!«
»Ja«, antwortete ich kichernd, »sogar The Gherkin.« Ich machte meine Bierdose auf und lehnte mich auf meiner Seite an den Baumstamm.
Er schielte zu mir
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