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Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte

Titel: Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Graefin von Bruehl
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unangenehme Eigenschaft, immerzu nachzuwachsen. Es wirkt wie eine Sucht. Ich kann damit nicht wieder aufhören.
    Der noch vor wenigen Jahren hochgelobte Super-Skill Multitasking, für den gerade Frauen eine besondere Begabung haben, wurde in der Tat inzwischen zur Berufskrankheit |90| deklariert. Psychologen raten dringend davon ab, diese Eigenschaft zu kultivieren. Allein Tiere, die in freier Wildbahn leben, müssen in der Lage sein, zwei Dinge gleichzeitig zu tun, nämlich fressen und trotzdem auf der Hut sein. Sie müssen ständig aufpassen, ob sich einer ihrer natürlichen Feinde nähert, und rechtzeitig Reißaus nehmen. Doch wir sind keine Tiere und leben auch schon lange nicht mehr in freier Wildbahn. Menschen mit Burn-out-Syndrom wird in der Regel bescheinigt, dass sie über Jahre versucht haben, verschiedene Baustellen gleichzeitig im Kopf zu behalten.
    Also nie wieder Multitasking! Nie mehr zwei Sachen gleichzeitig machen! Nie wieder gleichzeitig telefonieren und das Geschirr einräumen, das ich zuvor gespült hatte? Nein, das war utopisch. Sollte ich wirklich tatenlos herumsitzen, während ich mit meiner Schwester oder meiner Freundin Anna sprach? Was sollte ich denn so lange mit meinen Händen machen? Na, dann drei. Ab sofort durfte ich nur noch maximal zwei Beschäftigungen gleichzeitig nachgehen. Ich setzte bewusst auf Konzentration und Eingleisigkeit. Ich nahm mir vor, auch keine E-Mails nebenbei zu lesen, keine Telefonate zu führen oder im Internet zu surfen, während ich schreibe. Nichts lenkt so von der Arbeit ab wie eine plötzliche Nachricht oder Information von außen. Wenn ich einen wichtigen Termin hatte, den ich nicht vergessen durfte, stellte ich mir meinen Handy-Wecker.
    Doch es ist nicht allein die Gleichzeitigkeit, vor der wir lernen müssen uns zu schützen. Der Koreaner Byung-Chul Han hat im Herbst 2010 ein Buch veröffentlicht, das innerhalb kürzester Zeit nachgedruckt werden musste, so groß war das Interesse seiner Leser. Han lehrt an der Hochschule |91| für Gestaltung in Karlsruhe Philosophie und Medientheorie, und sein Buch trägt den schönen Titel
Müdigkeitsgesellschaft
. Es ist ein dünnes Bändchen, und seine Sprache ist hochphilosophischer Natur, also keineswegs eingängig, aber Hans Thesen sind von bestechender Klarheit: »Die Leistungsgesellschaft als Aktivgesellschaft entwickelt sich langsam zu einer Dopinggesellschaft. Inzwischen wird auch der negative Ausdruck ›Hirndoping‹ durch ›Neuro-Enhancement‹ ersetzt. Das Doping macht gleichsam eine Leistung ohne Leistung möglich. (…) Als ihre Kehrseite bringt die Leistungs- und Aktivgesellschaft eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung hervor.«
    Ähnlich wie Virilio spricht Han im Zusammenhang mit Beschleunigung von Gewalt, aber er verweist insbesondere auf das Übermaß an Reizen, das mit der allgemeinen Beschleunigung einhergeht, und vertritt die These, dass diese mit Phänomenen verbunden sind, die uns im Grunde vertraut sind. Deshalb sind wir ihnen besonders schutzlos ausgeliefert. Sie greifen direkt in unser System ein. Er schreibt: »Das Übermaß an Positivität äußert sich auch als Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen. Es verändert radikal die Struktur und Ökonomie der Aufmerksamkeit. Dadurch wird die Wahrnehmung fragmentarisiert und zerstreut. Auch die wachsende Arbeitsbelastung macht eine besondere Zeit- und Aufmerksamkeitstechnik notwendig, die sich wiederum auf die Aufmerksamkeitsstruktur auswirkt.«
    In der Tat lenken gerade Medien wie das bewegte Bild, also Film, oder Computer mit ihrer Flut an unablässig neuen Bildern, fesselnden Überschriften und Kurzinformationen im Telegrammstil unsere Wahrnehmung auf sich und zwingen uns pausenlos zu gespannter Aufmerksamkeit. |92| Wir werden angehalten, gänzlich unterschiedliche Schauplätze auf der Welt und die dortigen Ereignisse gleichzeitig im Blick zu behalten. Dabei wird uns suggeriert, dass alles von unmittelbarer Bedeutung für unseren ganz persönlichen Alltag sei. Ob es eine Werbung für Balkonblumen aus dem nächsten Baumarkt ist, der politische Aufruhr, der in Kairo im Februar 2011 quasi über Nacht zu einer Revolution und dem Sturz des Regimes führte, oder die Information, dass somalische Piraten einen Hamburger Frachter überfallen und die Besatzung entführt haben – wir werden gewollt oder ungewollt im Telegrammstil über diese Tatsachen informiert, und das auf eine Weise, die uns keine Gelegenheit lässt, Distanz zu wahren.

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