Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
sich, ohne sich mit dem anderen auszutauschen. Es erinnert an die Texte von Thomas Bernhard, jenem österreichischen Schriftsteller, der dafür berühmt war, seine Leser schonungslos mit einer Wortkaskade aus seitenlangen gleichförmigen Sätzen und monotonen Wiederholungen zu konfrontieren. Sie zeugen von fruchtloser Begegnung, Einsamkeit und tiefer Schwermut.
Die Hast, mit der viele Menschen sprechen und gestikulieren, hat etwas Tragikomisches. Es wirkt wie in einem alten Schwarzweißfilm, der zu schnell gedreht wurde. Die Figuren darin sehen aus wie fremdbestimmte Marionetten. Würden die Menschen sich langsamer bewegen, wirkten sie auf Anhieb völlig normal. Doch wie im Film argwöhnt man, dass ihr Verhalten nicht frei gewählt ist. Das ist das letztlich Tragische daran. Sie agieren nicht, sondern reagieren nur. Dabei wollen sie sich eigentlich mitteilen und erzählen, was sie denken.
Am deutlichsten wird der Mangel an Verständigung, der damit einhergeht, in Telefongesprächen, denn zusätzliche nonverbale Ausdrucksmittel wie Gestik und Mimik fallen hier weg. Wenn beide gleichzeitig reden, kann also wirklich keiner mehr etwas verstehen. Das scheint aber gleichgültig zu sein. Vielmehr gilt es, möglichst schnell möglichst viel zu sagen. Die Frage, die sich einem sofort stellt, ist dabei nur: Warum wird hier überhaupt noch gesprochen?
Jetzt bleibe ich still, sehe mein Gegenüber ruhig bei seinem Vortrag an und pflichte ihm maximal durch |101| stumme Gesten oder Mimik bei. Schon ein Blickkontakt ist ausgesprochen mitteilsam. Dabei muss ich an die südamerikanischen Quechua und Aymara denken, indigene Völker, die auf den Hochplateaus der Anden in Bolivien und Peru leben, einige von ihnen auch in Chile oder Ecuador. Bekanntermaßen sprechen auch sie nicht viel miteinander. Wenn ein Mann eine Frau näher kennenlernen möchte, dann schreibt er ihr keinen Brief oder schickt keinen Unterhändler oder eine Unterhändlerin. Gleich gar nicht würde er auf die Idee verfallen, die Dame seines Herzens einfach anzusprechen. Vielmehr setzt er sich unauffällig in ihre Nähe, sei es auf dem Markt oder abends in der Nähe des Dorfplatzes, wenn sie mit ihren Freundinnen oder anderen Familienmitgliedern beisammensitzt, und wirft ihr vorsichtig kleine Steinchen über den Boden zu. Reagiert sie darauf, kann er sein Werben intensivieren. Signalisiert sie ihm, dass sie seine Zuneigung erwidert, wird er sich nach einiger Zeit aufmachen, sie zu Hause bei ihren Eltern besuchen und fragen, ob sie heiraten dürfen. Was für eine stille und poetische Form, einander näherzukommen.
Die Gesprächspausen, die durch mein neues Verhalten bisweilen eintreten, sind für mich, ähnlich wie in den Stücken des russischen Literaten Anton Tschechow, ein Fingerzeig. Ich genieße diese Momente fast noch mehr als das eigentliche Gespräch. Während sie mich daran erinnern, dass ich mich nicht mehr von der allgemeinen Hast anstecken lassen will, verweisen sie in Tschechows Stücken auf die Eintönigkeit und Langeweile im Leben seiner Protagonisten, auf die Sprachlosigkeit, die zwischen ihnen über die Jahre des Zusammenlebens entstanden ist. Tschechow legte großen Wert auf dieses nonverbale |102| Ausdrucksmittel. Da die Gleichförmigkeit in den Lebenssituationen, die er darzustellen suchte, omnipräsent war, setzte er Pausen in inflationär hoher Zahl. In dem Drama »Drei Schwestern« steht allein über sechzig Mal ein feierliches »pausa« in den Regieanweisungen. Im Original sind sie nicht zu übersehen, mittig platziert und definieren einen eigenen Abschnitt. Kein Theaterzuschauer würde das aushalten, aber wenn man Tschechow so inszenieren würde, dass jede Pause eine Minute lang ist, würde die Aufführung dieses Stückes eine ganze Stunde länger dauern. Und in dieser Stunde würde nichts passieren.
Aber ich reduzierte nicht nur meine Redegeschwindigkeit. Auch was die mannigfaltigen anderen Kommunikationsmittel angeht, bemühe ich mich um Reduktion und Entschleunigung. Ich lese, frei nach den Theorien von
Slow-E-Mail
, nur noch einmal am Tag meine E-Mails, gehe wochentags zwischen acht und elf Uhr morgens nicht mehr ans Telefon und lasse jedes Mal Stunden vergehen, bevor ich eine SMS beantworte. Während der Wochenenden war ich, seit ich Kinder habe, schon immer schlecht zu erreichen. Jetzt mache ich daraus ein Prinzip. Ich gehe freitagabends offline und nur noch begrenzt an Festnetz- oder Mobiltelefon. Die ständige Erreichbarkeit, zu der
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