Von Hundert auf Gluecklich - wie ich die Langsamkeit wiederentdeckte
Die Flut der Bilder ist zu stark. Sie lässt keine Wertschätzung im Einzelnen und schon gar keine Differenzierung zu. Wir haben keine Möglichkeit festzustellen, welches Ereignis von nur marginaler oder vielleicht gar keiner Bedeutung für uns persönlich ist.
Das Nachrichtenmagazin
Der Spiegel
geht so weit zu fragen: »Kann unter diesen Bedingungen vernünftig regiert werden?« In dem Beitrag
Die zerhackte Zeit
von Markus Feldenkirchen und Dirk Kurbjuweit hieß es Anfang 2011: »Politik ist anstrengend, Politik macht müde. Das galt immer, aber heute gilt es mehr denn je. Denn das Tempo der Politik hat zugelegt, die Ereignisse überschlagen sich. Jede Minute eine neue SMS, jede Stunde eine neue Schlagzeile, jeden Tag ein neues Thema, alle zwei, drei Wochen ein neues Land. So sah Angela Merkels Alltag seit der Sommerpause aus.«
Nun muss ich zum Glück kein Land regieren. Ich muss auch nicht um die Revolutionäre von Kairo bangen und schon gar nicht über das Schicksal somalischer Piraten |93| entscheiden. Selbst die neuen Blumen aus dem Baumarkt brauchen mich nicht zu interessieren, denn ich habe keinen Balkon. Doch der Computer, über den ich jeden Tag meine E-Mails empfange, oder der übergroße Monitor im Hauptbahnhof, an dem ich auf dem Weg zu meinem nächsten Leseort vorbeitrabe, nehmen darauf keine Rücksicht. Ich werde mit ähnlicher Dringlichkeit über diese Ereignisse informiert wie jeder Regent dieser Erde. Die Art und Weise und Dichte, mit der uns derlei Nachrichten ständig übermittelt werden, sind eine massive Überforderung. Wir müssen lernen, uns davor zu schützen.
Es gilt also, sich abzuwenden, bisweilen unaufmerksam und nicht ständig rational und emotional an allen Themen beteiligt zu sein. Das müssen wir üben, denn genau das Gegenteil davon wird von uns erwartet. Erfolg war einst gepaart mit Ehrgeiz, Höflichkeit mit Empathie, Beliebtheit mit Anteilnahme. Wer schnell dachte, konnte sich als Erster zu Wort melden, wer rasch zu reagieren wusste, war vor den anderen zur Stelle. Jetzt kommen derart rasch und in solcher Fülle immer wieder neue Impulse, dass wir lernen müssen, sie abzuwehren. Besonders aggressiv agieren die neuen Medien. Sie locken mit bunten Aufnahmen, sie reizen uns mit spannenden Dokumentationen. Wir werden gezwungen hinzugucken, unser Gehirn muss dauernd reagieren. Wer alles mitnehmen will, dreht irgendwann durch. Wie oft sitzt man abends erschöpft auf dem Sofa und ist vor allem hirnmüde. Die Sinne und Denkwerkzeuge sind vollkommen überreizt.
Manche versuchen, zu Übungszwecken Weihnachten auszublenden. Sie nehmen sich vor, sich diesem Thema erst in der letzten Adventswoche zuzuwenden – ein |94| nahezu aussichtloses Unterfangen. Werbung, Nachrichten, Mode, Schaufensterdekorationen – jeder und alles ist bemüht, uns schon Wochen, nein Monate im Voraus in Weihnachtsstimmung zu versetzen. Sogar die Unterhaltungsmusik dreht sich nur noch um dieses Thema.
Andere versuchen wegzuhören, wenn sich eine Katastrophe ereignet hat, von der sie genau wissen, dass sie ihr Leben nicht im Geringsten berührt. Auch das ist praktisch unmöglich! Auf allen Kanälen wird gleichzeitig davon berichtet, es werden Sonderberichte eingeblendet. Die geliebte Fernsehserie ist dann auf einmal verschwunden, das wöchentlich erwartete Hörspiel wird nicht gesendet, auch im Radio spukt überall nur noch die Katastrophe herum. Selbst wenn längst keine neuen Erkenntnisse mehr zu vermelden sind – pausenlos wird nur über diesen einen Sachverhalt gesprochen. Keiner darf mehr über irgendetwas anderes nachdenken.
Wir müssen uns angewöhnen, gegen Dringlichkeiten eine gewisse Resistenz zu entwickeln. Gerade im Umgang mit Unvorhersehbarem sollten wir extrem misstrauisch sein. Wir dürfen nicht immer sofort reagieren. Wir müssen uns zur Maxime machen, die Aufgaben, von denen uns vermittelt wird, sie müssten umgehend erledigt werden, besonders kritisch zu hinterfragen und, wo irgend möglich, hintanzustellen.
Bisweilen bete ich mir meine neuen Leitsätze wie Mantras vor: Nimm nicht alles so genau. Sei oberflächlicher, gleichgültiger, leichtfüßiger. Man muss nicht alles wissen. Wenn du in die Tiefe gehen willst, konzentriere dich auf ein Thema. Blende alles andere aus. Lies keine Tageszeitung, sondern Sachbücher. Hör dir Nachrichten nur im Radio an. Vergiss die Online-Dienste!
|95| Ich merkte, wie beruhigend es wirkt, wenn man sich konsequent daran hält. Ich konnte Distanz gewinnen, mich
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