Von Kamen nach Corleone
Mühlheim an der Ruhr, Regensburg, Wuppertal, Remscheid und natürlich auch in den neuen Bundesländern, speziell in Sachsen. Das »Engelsgesicht«, der in Deutschland aufgewachsene Mafiaussteiger Giorgio Basile, arbeitete für den Clan Carelli.
Die drei führenden ’Ndrangheta-Clans kooperieren in großer Eintracht nicht nur miteinander, sondern auch mit den Clans der Camorra, Cosa Nostra und der apulischen Sacra Corona Unità. Alle drei ’Ndrangheta-Clans haben gemein, dass sie aus winzigen Dörfern stammen, die niemand kennen würde, wenn sie nicht seit Jahrzehnten immer wieder in Polizeiakten und Ermittlungsunterlagen auftauchen würden: Der Clan Farao stammt aus der Provinz Crotone, wo er die Dörfer Cirò, Cariati, Strongoli, Mandatoriccio, Rocca di Neto und Cirò Marina beherrscht. Der Clan Carelli stammt aus der Provinz Cosenza, seine Hochburgen sind die Dörfer Corigliano Calabro, Cassano allo Ionio und Rossano. Einzig der Clan Pelle-Romeo nimmt mit dem Ort San Luca eine etwas herausgehobene Stellung ein, wegen der Nähe zum Wallfahrtsort Santa Maria di Polsi, jenem Ort, dessen geistiges Oberhaupt kein Geringerer als der Pfarrer von San Luca ist, Don Pino Strangio. Ein Ort, in den im September nicht nur kalabrische Gläubige aus der ganzen Welt pilgern, sondern auch die ’Ndrangheta, die sich hier zu einer Art jährlichen Betriebsversammlung trifft. Die Clanführer besprechen in Santa Maria di Polsi anfallende Probleme, etwa die Folgen des Massakers von Duisburg. Nur einen Monat nach den Morden, während der Wallfahrt im September 2007 betätigten sich zwei Clans als Friedensstifter. Bald gab eine SMS bekannt: »Das Wetter hat sich stabilisiert. Die Sonne scheint wieder.« Kurz danach hörten die Ermittler, wie ein ’Ndranghetista die gute Nachricht am Telefon verkündete: »Alle waren da, die Strangio, die Pelle, die Nirta und die Giorgi, alle waren glücklich und zufrieden. Die Freundschaft ist wieder gefestigt worden. Sie ist wie ein unbewegliches Blatt an einem Baum.« Und im Sommer 2010 veröffentlichte die italienische Polizei sogar ein Video von einemder letzten Treffen der Bosse im Marienwallfahrtsort im September 2009.
Die Blutsverwandtschaft mache die Stärke der ’Ndrangheta aus, betonte Gratteri immer wieder. Verwandte verraten einander nicht. Deshalb gibt es in der ’Ndrangheta auch die wenigsten Abtrünnigen. In der sizilianischen Cosa Nostra hingegen, die sich als kriminelle Elite versteht, werden die Mitglieder nicht aufgrund von Blutsbanden in die Clans aufgenommen, sondern aufgrund ihres kriminellen Profils, aufgrund ihrer Kaltblütigkeit. Wem es gelingt, mit einem sauber ausgeführten Banküberfall die Bosse auf sich aufmerksam zu machen, kann darauf hoffen, vom gemeinen Verbrecher zum Mitglied der Cosa Nostra aufzusteigen. Sich von einem Niemand vermischt mit nichts in einen Ehrenmann zu verwandeln.
»Man muss sich keine Sorgen machen, wenn man durch Duisburg, Frankfurt, Kopenhagen geht«, sagte Gratteri. Die Mafiosi schössen dort nicht, sie ermordeten niemanden, sie erpressten kein Schutzgeld, sie verbrannten keine Autos. Und die Ermittler bewegten sich erst, wenn der Tote auf dem Boden liegt. Dabei müsse die Arbeit bereits beginnen, wenn ein flüchtiger Mafioso gefunden wird: Auch in Amsterdam gebe es eine operative Basis, ein locale , eine Zelle, die kleinste Einheit in der ’Ndrangheta-Struktur. Giovanni Strangio habe sich seit einem Jahr in Amsterdam aufgehalten. Er brauchte Kontakte, Leute, er musste mit Drogen handeln, mindestens, um sich über Wasser zu halten. Und was geschehe? Nichts.
»Seit der Abschaffung der Grenzkontrollen hat sich die Mafia verstärkt in Nord- und Mitteleuropa ausgedehnt«, sagte Gratteri. In Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich. Aber auch in Spanien und Portugal. Ländern, in denen man davon ausgehe, dass die Mafia nicht existiere. Nur,weil es keine Toten gibt. Was aber banal sei. Denn wenn die Mafia beschließe, in einem Terrain Geld zu waschen, bedeute dies, dass sie keinerlei Gewalt ausübe, weil sie sonst die Polizei auf den Plan riefe, sagte Gratteri und fügte hinzu: »Die Mafiosi bewegen sich wie unter einer Glasglocke. Ohne Verbrechen existiert die Mafia nicht. Und wenn die Mafia nicht existiert, gibt es auch keine Geldwäsche. Und keine Ermittlungen. Und wo keine Ermittlungen sind, gibt es auch kein Verbrechen. So beißt sich der Hund in den Schwanz.«
Gratteri seufzte. Wie oft hatte er das schon beklagt. Ob er es noch erlebt,
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