Von Kamen nach Corleone
konnten? Die Solidarität dreier Schwestern, die durch halb Europa reisten, nur um des Familienglücks willen?
Als die Frauen am Morgen in Rom ankamen, versuchten sie ihre Jäger abzuschütteln – durch einen fliegenden Wechsel zwischen Taxis und Wagen, die von Komplizen gefahren wurden. Bis die Frauen glaubten unsichtbar zusein und ein Auto mit deutschem Kennzeichen bestiegen, das sie bis nach Amsterdam bringen sollte. Über verschlungene Wege, Haken schlagend über Tausende von Kilometern. Über Aosta im Piemont, wo der Clan Nirta seit Jahrzehnten verwurzelt ist, weiter in die Schweiz, nach Frankreich, über Belgien bis nach Amsterdam. Und doch immer unter den Augen der Verfolger. Berauscht von dem Glauben an die eigene Unverwundbarkeit, schildern Teresa und Angela Strangio ihrem Komplizen später im Chat die Reise nach Amsterdam und die am Ende stehende Verhaftung wie einen Actionfilm. In den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Reggio Calabria liest sich das so.
Sie haben uns verfolgt – wir sind fünf Stunden lang zu Fuß gelaufen – wir hatten Angst, dass sie das gps lokalisieren würden – als wir schließlich ankamen, haben wir das Auto weit weg abgestellt – und haben das Gepäck ins Haus gebracht – als wir nach zwei Tagen zum ersten Mal das Haus verließen, liefen sie uns von jeder Ecke nach – wenn wir plötzlich abbogen, bogen auch sie um – sie haben uns fotografiert – da war uns klar, dass sie kurz davor waren, uns zu schnappen – wir sind blitzartig abgebogen, einer lief hinter uns her – ich zeigte in eine Richtung und schrie: Hau ab, hau ab – da haben sie uns aus den Augen verloren, und wir sind nach Hause gelaufen – wir dachten, heute Nacht greifen sie uns an – am nächsten Tag sind wir rausgegangen, ganz normal, um einzukaufen – an einem Abend hatte ich ein Gewehr und 300 000 Euro im Rucksack – und die hinter mir her – es war wie im Film – wenn die mich damit erwischt hätten, wären das mindestens zehn Jahre gewesen – einen Tag vor der Verhaftung sind wir beide rausgegangen, ganz normal, mit schwerenTaschen – wir sind so lange gelaufen – du kannst dir das nicht vorstellen – die hinter uns her – wir haben die Straßenbahn gewechselt, den Bus – es war der Wahnsinn – und an dem Morgen gingen wir beide raus – und dann war da der Typ mit den dunklen Haaren, der uns verfolgte – und wir nahmen die Taschen und warteten auf das Taxi – als wir die Schweine sahen, die uns mit ihren Autos blockierten – und uns Handschellen anlegten – und mir sagten: Wir suchen eure Männer – sagt uns, wo sie sind, sonst nehmen wir eure Kinder mit – und ihr seht sie nie wieder – und ich sage – es ist mir scheißegal – ich habe keine Männer – ich weiß nichts – dann steckten wir in dem Lieferwagen – wir haben wie verrückt geschrien – und das Schwein am Steuer drehte das Radio auf volle Lautstärke – er sagte, ich bin Italiener – und sang: Lasciatemi cantare – das Lied von Totò Cutugno – sie brachten uns ins Gefängnis – ich musste die Stiefel ausziehen – ich sagte, lasst mir wenigstens meinen Pullover, es ist kalt – und da sagte mir der Bulle – nimm meine Jacke – und ich sagte – ich will deine Jacke nicht – sie sagten – wo ist dein Bruder – erzähl uns von ihm – ich sagte, ich will meinen Anwalt anrufen, meine Familie, das Konsulat – aber nichts – drei Tage lang hatte ich keine Rechte, nichts.
Tatsächlich ging die Rechnung der Schwestern auf, zumindest vorübergehend: Giuseppe Nirta blieb im Gefängnis, weil er bereits wegen internationalen Drogenhandels rechtskräftig zu vierzehn Jahren Haft verurteilt worden war. Die drei Schwestern aber konnten bald das Gefängnis verlassen. Waren sie nicht lediglich aufopfernde Mütter und Schwestern mit ausgeprägtem Familiensinn?
Als ich das Lokal verlasse, bin ich erleichtert. Weil die Sonne scheint und ich den Spaghetti alla Norma entkommen bin. Wenn ich noch rauchte, steckte ich mir jetzt eine Zigarette an. Aber ich rauche nur noch in meinen Träumen. Die kleine Genusszigarette. Mein Unbewusstes ist infam.
Vor mir überqueren zwei junge Frauen mit schweren Sporttaschen den Dellplatz. Nachdem ich die Prozessakten für den Duisburger Mafiaprozess gelesen habe, kann ich junge Frauen mit schweren Taschen nicht mehr ansehen, ohne mich zu fragen, ob in den Taschen nicht etwa Waffen stecken. Die Schwanenmütter sitzen immer noch auf der Bank und blicken mich
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