Von Kamen nach Corleone
’Ndranghetisti und deckten nicht nur den Falschgeldhandel auf, den Sebastiano Romeo mit Camorra-Mitgliedern betrieb, sondern wurden auch Zeugen, wie unbekümmert die beiden Mafiosi über ihre Rauschgifttransporte von Holland über Sonthofen nach Kalabrien und von Kalabrien nach Deutschland plauderten. Die Pizzeria in Sonthofen wurde lediglich zum Schein betrieben und diente als »Relaisstation« für das Kokain auf dem Weg von und nach Duisburg und Erfurt, wie es die Fahnder nennen; im Amateurfunk ist eine Relaisstation eine Funkstation, die nur so lange sendet, wie gesprochen wird. Das Gleiche gilt für die von den Mafiosi betriebenen Pizzerien, die nur so lange betrieben werden, wie sie für ihre anderen, eigentlichen Geschäfte nützlich sind.
Lange bevor die Ermittler die Verbrechen der beiden kalabrischen Mafiosi nachweisen konnten, war Kempten bereits zur Heimstatt für die Mafia geworden. Für kalabrische ’Ndranghetisti, kampanische Camorristi und sizilianische Mafiosi – die wie überall in Deutschland auch ins Allgäu im Gefolge ihrer süditalienischen Landsleute gekommen waren. In den sechziger Jahren hatte eine Textilfabrik in Kempten Gastarbeiter aus der sizilianischen Kleinstadt Adrano unweit von Catania angeworben. Mit den Gastarbeitern war auch die Mafia gekommen. ÜberJahrzehnte gelang es ihnen, inmitten ihrer unbescholtenen italienischen Landsleute unsichtbar zu bleiben. Erpressungen? Brandstiftungen? Ein Sprengstoffanschlag? Die Italiener schwiegen. So sehr, dass sich Kempten in den achtziger Jahren zu einer Fluchtburg der sizilianischen Cosa Nostra verwandelte. In dem barocken Allgäuer Idyll versteckten sich die flüchtigen sizilianischen Mafiosi nicht nur vor der italienischen Justiz, sondern auch vor den eigenen Leuten, in Adrano war Ende der achtziger Jahre ein Mafiakrieg ausgebrochen, in dessen Verlauf innerhalb von drei Jahren mehr als 376 Mafiosi ermordet wurden. Je größer der Druck in Italien wurde, desto mehr Clanangehörige flüchteten nach Kempten – wo sie erfolgreich ihre bewährten Geschäftsfelder betrieben: Waffen- und Drogenhandel. Der Allgäuer Stützpunkt war geboren.
Berühmt wurde Kempten, als 1998 hier auf dem Bahnhof der Kalabrier Giorgio Basile verhaftet wurde – der später als »Engelsgesicht« bekannt werden sollte: Basile war der erste in Deutschland, in Mühlheim, aufgewachsene Mafioso, der beschloss, sein Schweigegelübde zu brechen und mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Basile war nach Kempten gekommen, um bei einem Clanmitglied Schulden einzutreiben, und ahnte nicht, dass ihn die Polizei bereits auf dem Bahnsteig erwartete. Später, als Kronzeuge, gab Giorgio Basile in schönstem Ruhrgebietsdeutsch zu, über dreißig Morde begangen zu haben – in Deutschland und in Italien.
Kempten hatte die Mafiosi vor allem wegen seiner Grenznähe angezogen, genau wie auch Traunstein oder Konstanz. In jenen Zeiten, als noch kein Schengener Abkommen den Mafiosi die Arbeit erleichterte, wählten die Bosse mit Vorliebe grenznahe Orte aus, um die Abfertigung an der Grenze zu überwachen: Wann sind Stoßzeiten,wann wird besonders gut, wann besonders nachlässig kontrolliert?
Die Staatsanwaltschaft residiert in genau jenem leuchtenden Residenzpalast, der aussieht, als sei er auf dem Weg nach Italien verloren gegangen. An der Eingangstür steht: »Achtung! Dieser Bereich wird videoüberwacht!« Was mich ein wenig an die von Leibwächtern belagerten Flure der Antimafiaermittlungsbehörden in Italien erinnert.
Das Büro von Staatsanwalt Gunther Schatz sieht aus wie frisch bezogen, auf dem Boden stapeln sich die Aktenordner, daneben stehen noch Umzugskartons, und an der Wand zeugen zwei Kunstdrucke von Botero und Munch von einer Welt jenseits vom Verbrechen. Gunther Schatz ist ein in Mafiaangelegenheiten erfahrener Ermittler, was man auch an der Unerbittlichkeit bemerken kann, mit der seine Vorzimmerdame jeden Anrufer abwimmelt. So gesehen wird Staatsanwalt Schatz strenger bewacht als seine Kollegen in Palermo oder Reggio Calabria, vor deren Büros Horden von Leibwächtern herumlungern und aus Langweile ihren Freundinnen hinterhertelefonieren.
Es gibt nur wenige Staatsanwaltschaften in Deutschland, die für den Kampf gegen die Mafia so gut gerüstet sind wie die Bayern – erfahren und technisch gut ausgestattet, dank des Einsatzes teuerer IMSI-Catcher etwa. Und dann ist da noch die »Schleierfahndung«, sie ist eine »verdachtsunabhängige Ermittlung«, die deshalb von
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