Von Kamen nach Corleone
geringe Körpergröße. Wenn er die Brille aufsetzt, werden seine Augen groß wie Glasmurmeln. Er legt zwei telefonini und ein I-Phone auf den Tisch. Und küsst mir die Hand. Palermo sitzt in seinen Poren, es schwingt in seinem weichen sizilianischen Akzent mit, seine Manieren sind davon durchdrungen, der Handkuss verrät ihn.
Ich bin Massimo Ciancimino schon ein Mal begegnet, vor einigen Jahren in Palermo, in einem kleinen Restaurant unweit des Teatro Politeama, in der via Torrearsa, einem jener Restaurants, in denen tout Palerme sich traf, die Terrasse war ein Dschungel aus Bambussträuchern, Bananenstauden und Hibiskusblüten, unaufhörlich schwirrten Küsse durch die Luft, junge aufstrebende Vermögensberater mit schmalen Aktentaschen saßen neben Stadträtinnen, die ihre Handys mit abgespreiztem kleinem Finger an ihre Ohren hielten, Forza-Italia-Politiker in doppelreihigen Anzügen hofierten sizilianische Madonnen, in deren Dekolletés kleine goldene Kreuze ruhten.
Kurz zuvor hatte es geregnet, die Nacht roch nach feuchtem Asphalt, Abgasen und nach Afrika, wie immerin Palermo. Ich saß mit einer sizilianischen Freundin am Tisch, wir hatten gerade Weißwein bestellt, als meine Freundin die Augenbrauen hob und sagte: »Da drüben sitzt übrigens Massimo Ciancimino.« Jeder hier kannte ihn, den jüngsten Sohn von Don Vito – dem Bürgermeister, der für den sacco di Palermo verantwortlich war, jene Plünderung Palermos in den siebziger Jahren, als die Adelspaläste und Jugendstilvillen der Stadt mitsamt ihren Irrgärten, Laubengängen und Springbrunnen über Nacht dem Erdboden gleich gemacht wurden. Vito Ciancimino war erst Baureferent und dann Bürgermeister – und hat Palermos Gesicht mit einer gigantischen, mafiosen Bauspekulation verwüstet; in vier Jahren vergab er 4200 Baugenehmigungen, 3300 davon an einen Straßenhändler, einen Nachtwächter und zwei Maurer. Alle vier Analphabeten. Strohmänner für die Bosse.
Die sizilianischen Madonnen, die Forza-Italia-Politiker, die jungen, aufstrebenden Vermögensberater, alle drängten sich um den Tisch, an dem Don Vitos Sohn Massimo saß, alle wollten ihn umarmen und küssen. Sein Vater war einer der wenigen italienischen Politiker, der als Gehilfe der Mafia verurteilt worden war und der wegen dieses Verbrechens tatsächlich eine Gefängnisstrafe absitzen musste. Was Don Vito zu der sarkastischen Bemerkung hinriss, er könne nicht an die berühmte Theorie vom terzo livello über der Mafia glauben, dem »drittes Stockwerk« genannten Überbau der Politik, von dem aus die Mafia gelenkt werde: »Von wegen drittes Stockwerk, mir kommt es eher so vor, als handele es sich um eine Einzimmerwohnung«, sagte Vito Ciancimino. »Denn ich soll ja wohl der einzige Politiker sein, der je mit der Mafia zusammengearbeitet hat.«
Meine Freundin hatte Massimo Cianciminos Namen indem spitzen Ton ausgesprochen, den sie für Bekannte reserviert hat, die heute Justizminister sind oder Ratspräsidenten oder Mafiosi und die sie bereits kannte, als sie noch kurze Hosen trugen und mit ihr am Strand von Mondello spielten. In Palermo kennt jeder jeden, und jeder weiß alles von allen, wessen Schwiegervater gerade der Besitz wegen Begünstigung der Mafia beschlagnahmt wurde, wessen Tochter einen Boss geheiratet hat und welche Frau eine Affäre mit welchem Stadtrat hat.
Von Massimo Ciancimino hieß es an jenem Abend, dass er kurz davor sei, sich eines der berühmten Messerschnitt-Gemälde von Lucio Fontana zu kaufen, so wie sich andere Leute eine Tüte Kartoffelchips kaufen. Ich hielt ihn für ein reiches, verwöhntes Kind, einen, der seine Winter in Cortina verbrachte und mit einem Ferrari durch Palermo fuhr. Als wir das Lokal verließen, grüßte ihn meine Freundin freundlich, und ich tat so, als würde ich durch ihn hindurchblicken.
Und jetzt sitzt mir Massimo Ciancimino gegenüber, sagt: »Ciao Petra«, und bereits nach wenigen Minuten ist es so, als hätte auch ich meine Sommer mit ihm am Strand von Mondello verbracht. Als wüsste ich schon lange, dass er seinen Vater Padrone Padre nennt, in Abwandlung des Filmtitels der Gebrüder Taviani: Padre Padrone , mein Vater, mein Herr. Ein Film, der die allmähliche Befreiung eines jungen Mannes aus der Unterdrückung von seinem gewalttätigen Vater beschreibt. Mein Herr, mein Vater, so nennt Massimo Ciancimino seinen Vater und sagt, dass er während der Beerdigung seines Vaters versucht habe, sich an einen glücklichen Moment seines
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