Von Kamen nach Corleone
gesagt habe, und der auch deshalb nichts wisse, weil er ja kein abtrünniger Mafioso sei, der die Mafia von innen kenne.
Dieser Vorwurf lässt Ciancimino auf dem Sofa hochschnellen. »Das ist doch völliger Schwachsinn, soll ich etwa erst einen Staatsanwalt umbringen, um glaubwürdig zu sein?«
Allerdings haben viele Italiener ungeachtet des Propagandafeldzuges bereits festgestellt, dass die Wahrung des Schatzes von Don Vito allein kein Motiv für Massimo Ciancimino sein kann, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Denn der Preis dafür ist zu hoch. Massimo Ciancimino hat sich jede Menge Feinde gemacht. Nicht nur die Mafiosi selbst, sondern auch die sogenannten »fehlgeleiteten« Geheimdienste, die mit der Mafia zusammenarbeiteten und zu denen der mysteriöse Signor Franco gehörte – der frei von jedem Ungemach weiter seinen Dienst versah, bis in die Gegenwart hinein, wie die Ermittler feststellten. Und natürlich Marcello Dell’Utri, den die Aussagen von Massimo Ciancimino schwer belasteten.
Vielleicht ist es viel mehr die Hassliebe zu seinem Vater, die Massimo Ciancimino bis heute treibt. Die Hassliebe zu einem Vater, der ihm das Leben raubte, ihn demütigte und zum Kammerdiener degradierte – und ihn andererseits zu seinem einzigen Vertrauten machte. Vielleicht ist es der ewige Wunsch eines Sohnes, geliebt zu werden, derihn dazu brachte, jenes Gespinst aus Heuchelei anzuprangern, unter dem sich all jene verbergen, die genau wie sein Vater mit der Mafia zusammengearbeitet haben: Polizisten, Carabinieri-Generäle, Geheimdienstler, Ministerpräsidenten, Senatoren. Und die, anders als sein Vater, nicht dafür büßen müssen, sondern sich bis heute größter Anerkennung erfreuen.
Ich erwähne die Söhne von Bernardo Provenzano. Was würde geschehen, wenn sie sich dazu entschlössen, auszusagen über das, was sie in den Lebensjahren im Versteck erfahren haben?
»Oh, sie wüssten sicher viel zu berichten«, sagt Massimo Ciancimino. »Aber ich kann ihnen auch nicht verübeln, wenn sie nichts sagen. Denn letztlich ist es doch so, dass sich zu schweigen auszahlt. Kein einziger Sohn eines Bosses wurde je kritisiert und öffentlich bloßgestellt. Nur ich. Weil ich gesprochen habe.«
Jetzt hat Massimo Ciancimino bemerkt, dass er kurz davor ist, vom Sofa zu rutschen. Er rafft sich wieder auf. Kontrolliert die eingehenden Mails auf dem iPhone. Abends fliegt er wieder nach Palermo, am nächsten Morgen wird er im Justizpalast erwartet.
Als ich aufbreche, sehe ich Spielzeug in einer Ecke liegen, Bauklötze, Autos, ein Dreirad. Ich frage ihn, wie sein Sohn heißt.
»Vito«, sagt er. Und fügt hinzu: »Mein Vater hätte das nicht gewollt. Niemand sollte so heißen wie er. Einmal sagte ich ihm: ›Wenn ich einmal einen Sohn haben werde, werde ich ihn Vito nennen.‹ Und mein Vater sagte: ›Bloß nicht. Der Name wird alle immer an mich erinnern.‹ Und ich erwiderte: ›Sei nicht so eingebildet. Denn vielleicht wird es eines Tages eher so sein, dass man sagen wird: Vito? Ist das nicht der Vater von Massimo Ciancimino? Man wird sichan dich als meinen Vater erinnern.‹ Ich bin auf einem guten Weg.«
Er begleitet mich zur Tür, vorbei an dem Paten mit dem Kinderwagen-Logo. Jetzt erinnert er sich auch wieder daran, dass ich ja keine italienische Journalistin bin, sondern Deutsche. Und erklärt: »Habe ich eigentlich schon gesagt, dass sich mein Vater und Provenzano in Deutschland treffen wollten? Nach der Verhaftung von Riina dachten sie, dass es keine gute Idee sei, in Palermo zusammen gesehen zu werden. Also beschlossen sie, sich das nächste Mal in Deutschland zu treffen, bei Provenzanos Bruder. Weil sie in Deutschland niemandem aufgefallen wären.«
Tatsächlich.
11
Auf den Hügeln und Bergrücken rechts und links neben mir stehen Dörfer und Städte, die aus der Ferne aussehen, als hätte das Mittelalter hier nie aufgehört. Die Toskana. Zypressenbestandene Hügelketten im Gegenlicht. Das klassische Italienbild. Kaum habe ich die Poebene hinter mir gelassen, geht mir wieder das Herz auf. Weil ich am Rand der Autobahn nicht mehr die Baumärkte, Outlets und sumpfigen Wiesen Norditaliens sehe, sondern Olivenhaine, Festungsmauern und Weinberge. Deren Laub mal flammend rot leuchtet, mal goldgelb. Die Farben wachsen sauber voneinander abgetrennt, wie in einem Farbkasten.
Überhaupt muss an dieser Stelle der toskanische Hügel gerühmt werden. Als Gott die Hügel verteilte, da wählte er die anmutigsten, die ebenmäßigsten
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