Von Kamen nach Corleone
für die Toskana aus. Die toskanische Hügellandschaft ist perfekt. Später wird sie etwas flacher, das Tibertal dehnt sich vor meinen Augen, am Horizont steigen die blauschwarzen Umrisse der umbrischen Berge auf – und in einer Notfallbucht stehen ein paar pinkelnde Männer.
Zwei Stunden später bin ich in Rom und suche die via della Conciliazione. Was die Handarbeitslehrerin etwas überfordert, denn in italienischen Städten kennt sie sich nicht aus. Die sind auf ihrer Navigations-CD nicht vorgesehen. Also vertraue ich auf meinen Orientierungssinn undden lieben Gott – dem ich etwas näher gerückt bin, denn die via della Conciliazione führt geradewegs zum Petersdom.
Die Antimafiaorganisation »Libera« hat an diesem Wochenende die »Generalstäbe der Antimafia« in einem Auditorium versammelt – was sehr kriegerisch klingt. Und auch genauso gemeint ist. Italien ist ein Land im Kriegs zustand. Einem Krieg, der seit mehr als sechzig Jahren andauert. Einem Krieg der Mafia gegen die Schwachen. Gegen die Menschenwürde. Gegen die Selbstbestimmung. Gegen die Freiheit. Ein Krieg, der mit ungleichen Waffen geführt wird. Die Mafia kämpft mit Kalaschnikows und Raketenwerfern, mit Parlamentariern, die für sie Justizreformen durchsetzen, mit Staranwälten, Verleumdungsklagen. Und ihre Gegner kämpfen mit bloßen Händen.
Die Generalstäbe der Antimafia, das sind Studenten mit Spitzbärten, stark gepuderte Damen, die aussehen, als kämen sie gerade vom Nachmittagskaffee, und kaugummikauende Journalisten, deren Notizblöcke bereitliegen. Das sind junge Priester, die ihre Priesterbinde gelockert haben, Universitätsprofessoren in currybraunen Breitcordhosen und Mädchen mit ernstem Blick und Augenbrauenpiercing. Militante Optimisten, die in Italien ehrenamtlich für die eintausendfünfhundert Antimafiavereinigungen arbeiten: Sekretärinnen, die ihre Freizeit dafür opfern, in Schulen Lesungen von Mafiabüchern zu veranstalten, Regisseure, die Theaterstücke gegen die Mafia inszenieren, Studenten, die via Facebook Protestmärsche gegen mafiose Parlamentarier organisieren und Mafiainfiltrationen in Stadträten anprangern.
Es ist der Priester Don Luigi Ciotti, der die Antimafiabewegung Libera gegründet hat, die nicht nur beschlagnahmte Mafiagüter bewirtschaftet, sondern sich auch imKampf gegen das Schutzgeld einsetzt, an Mafiaopfer erinnert, informiert. Es gibt Libera-Aktivisten in ganz Italien, nicht nur in Süditalien, auch in winzigen norditalienischen Dörfern, Antimafiakrieger, die jetzt alle durch das Foyer des Auditoriums laufen und inmitten derer ich Laura suche, eine Journalistenfreundin, mit der ich verabredet bin. Plötzlich steht sie vor mir, wie aus dem Nichts aufgetaucht, und bevor ich etwas sagen kann, zieht sie mich lächelnd in den Saal.
Es ist der Moment, als der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano unter großem Applaus das Auditorium betritt, ein Greis mit scharfgeschnittenen Zügen. Er wird nicht nur von den üblichen Leibwächtern in dunkelblauen Anzügen begleitet, sondern auch von römischen Gardesoldaten in weißen Uniformen, die sich mit Degen, silberbetressten Epauletten und goldschimmernden Helmen wie eine Prätorianergarde hinter ihm aufbauen.
Ein Mädchen mit einem glitzernden Palästinenserschal um den Hals steigt auf die Bühne. Es ist ein Mädchen, deren Mutter in Neapel von der Camorra ermordet wurde – eine junge Mutter, die zufällig die Straße passierte, als ein Boss ermordet wurde. Eine Kugel traf sie in die Schläfe. Ihre Tochter war damals zehn Jahre alt und sah vom Balkon der Wohnung aus, wie ihre Mutter erschossen wurde. Heute ist sie siebzehn Jahre alt und liest mit fester Stimme die Begrüßungsworte des Staatspräsidenten vor, der zu Mut und Tapferkeit aufruft und Gerechtigkeit verspricht, und ich höre, wie sich hinter mir jemand die Nase putzt.
Im Auditorium sitzen auch Ehefrauen und Kinder von ermordeten Polizisten und Staatsanwälten, Brüder, Schwestern und Eltern von Mafiaopfern. Einige bezahlten mit dem Leben für ihren Kampf um Gerechtigkeit, andere befanden sich nur durch Zufall zur falschen Zeit am falschenOrt, als eine Bombe hochging, als sie bei einer Schießerei ein Querschläger traf, als sie Augenzeuge einer Blutfehde wurden und deshalb beseitigt werden mussten.
Es ist ein untröstliches und zorniges Volk, das hier sitzt und seine Toten vor dem Vergessen bewahren will, mit Wikipedia-Einträgen und Gedenktagen, mit Stiftungen und
Weitere Kostenlose Bücher