Von Namibia bis Südafrika
vor eine Theke, die aus wenigen Brettern zusammengenagelt worden war. Dahinter duckte sich ein Regal unter der niedrigen Decke, in dem ich außer ein paar Konserven, einigen Schnapsflaschen, ein halbes Dutzend Büchsen Bier und einer Dose Bonbons nichts entdecken konnte. Dr. Kuvare stand hinter der Theke und legte einen zerbrochenen Taschenspiegel und einen Kuduschädel darauf. Er winkte die Himba-Frauen zu sich. Sie hatten bis jetzt fröhlich miteinander geplappert, doch auf einmal wurden sie still. Ein Gefühl der Furcht hing in der Luft. Dann ging alles ganz schnell. Dr. Kuvare schlug meiner schönen Fee mit dem abgeflachten Ende des Kuduschädels kräftig auf die Stirn. Dann hob er ihren rechten Busen, hieb den Schädel auf den Brustkorbknochen und wiederholte die Prozedur auf der anderen Seite. Er hielt ihr den Schädel vor den Mund, sie blies zweimal darauf. Anschließend geschah dasselbe nochmals. Dann waren die anderen Frauen an der Reihe, und dann war es auch schon vorbei. Dr. Kuvare erhob sich, und ich merkte, dass er zitterte.
„Was passiert jetzt?“, flüsterte ich Eberhard von Koenen zu.
„Nichts“, sagte er. „Ende der Vorstellung.“
Die Nacht verbrachten wir in der Nähe des Dorfes. Eberhard von Koenen hing seinen Gedanken nach und hatte keine Lust, sich zu unterhalten. Das war mir recht, denn mich ließ das Gefühl nicht los, Zeuge von etwas Außergewöhnlichem geworden zu sein. Ich lag auf dem Rücken, sah in die Sterne und dachte darüber nach, dass ich aufgebrochen war, um Antworten auf Fragen zu finden. Mittlerweile hatte ich das Gefühl, mehr Fragen als Antworten zu haben. Aber so ist das immer. Früher hatte ich auch geglaubt, dass ich die Welt besser kennen lerne, je mehr ich unterwegs bin. Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, das Gegenteil ist der Fall. Wir glauben Bescheid zu wissen, weil wir im 21. Jahrhundert leben. Aber das wirkliche Leben lässt sich nicht durchs Internet entdecken.
Am nächsten Morgen kehrten wir ins Dorf zurück. Wir warteten wieder ein paar Stunden, in denen ich umherspazierte, mich mit den Leuten in der internationalen Zeichensprache über Gott und die Welt austauschte und mit Kindern spielte. Dann tauchte Dr. Matheus Mutindi Kuvare auf und ließ uns wissen, dass wir ihn ins Krankenhaus begleiten sollten.
Ins Krankenhaus?
Warum hatte niemand erwähnt, dass es hier ein Krankenhaus geben sollte? Weshalb hatte die Behandlung gestern im Schnapsladen statt gefunden? Einigermaßen verwirrt fuhren wir hinter dem Meister der großen Zeremonie her. Ein schönes Bild: Unter stahlblauem Himmel schritt Matheus Mutindi Kuvare würdevoll aus dem Dorf. Er hatte einige Herero- Frauen an seiner Seite, von denen jede gut und gerne 100 kg auf die Waage brachte. Dann folgten wir im Auto, und hinter uns kam die gesamte Einwohnerschaft. So näherten wir uns dem so genannten Krankenhaus. Es lag ein paar Kilometer außerhalb, maß drei auf vier Meter, und wäre woanders nicht einmal als Ziegenstall durchgegangen.
„Jetzt bin ich aber gespannt“, sagte Rolf.
Er nahm mir die Worte aus dem Mund. Was soll ich sagen, wir wurden nicht enttäuscht.
Wir zwängten uns in die Hütte: Dr. Kuvare, Eberhard, Rolf, die Herero-Frauen und eine der Himba- Frauen. Ich hätte gerne ein Schild an die Tür gehängt – „Wegen Überfüllung geschlossen“ –, aber es gab keine Tür. Es gab nur ein Loch in der Wand, durch das wir hineinkletterten. Drinnen war es stockdunkel, und ich gab Bigy ein Zeichen, mit einem Reflektor ein wenig Sonnenlicht ins Innere zu lenken. So konnte ich sehen, was vor sich ging. Dr. Kuvare setzte sich an einen kleinen Tisch. Er legte seinen Spiegel und den Kuduschädel darauf und schloss die Augen. Er wirkte konzentriert. Plötzlich deutete er auf Bigy und murmelte etwas.
„Was sagt er?“, flüsterte ich Eberhard ins Ohr.
„Du kannst dich zwar hinter diesem Schild verstecken. Aber ich sehe trotzdem in dein Herz hinein.“
Auch Eberhard hatte geflüstert, und ich war mir sicher, dass Bigy nichts von all dem gehört hatte. Später sagte sie mir, dass sie auf einmal ein eigenartiges Gefühl gehabt habe und am liebsten davon gelaufen wäre.
Wieder murmelte Dr. Kuvare etwas, und Eberhard übersetzte: „Ich werde Blut nehmen.“
Mein lieber Herr Gesangsverein, dachte ich noch, aber zu mehr kam ich nicht mehr. Dr. Kuvare erhob sich, nahm den Unterarm der Himba-Frau und drehte ihn zu sich. Mit einem schmalen Metallstift fuhr er kreuzweise über die Haut.
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