Von Napoleon lernen, wie man sich vorm Abwasch drückt: Eine heitere Historie Europas (German Edition)
da man schneller woanders sei. Briefe würden aussterben, denn wozu schreiben, wenn man auch ganz schnell persönlich vor Ort sein kann? Auch Romane würden verschwinden, die damals allesamt «romantisch» – daher ihr Name – und oftmals kitschig waren. Ihre Geschichten bestünden stets aus Abschiedstränen, lästerte Saphir, einen halben Band könne man mit den Tränen füllen. Doch wenn alsbald eine Bahn zwischen Leipzig und Hamburg verkehrte, würde es keine richtigen Abschiede mehr geben, denn man wäre schnell wieder zu Haus. Auch würde man auf Reisen viel unaufmerksamer, bekäme von Land und Leuten weniger mit, prophezeite der Schriftsteller hellsichtig. Eine Europareise dauerte in der guten alten eisenbahnlosen Zeit zwei Jahre, doch bald würde ein Sohn auf die Frage des Vaters, wie ihm Holland gefallen habe, antworten: «Holland habe ich verschlafen.»
Vielleicht ahnte Saphir, dass es dereinst so etwas wie
Interrail
geben würde, bei dem in der Tat viele junge Leute komplette Länder verschlafen, wenn sie, um das Hotel zu sparen, abends in München in den Nachtzug nach Rom steigen und so zum Beispiel die Schweiz mit geschlossenen Augen durchqueren.
Wie viel intensiver war doch die Zeit, in der man vor allem wandernd unterwegs war! Es ist nicht ganz sicher, wann «Die gute alte Zeit» erfunden wurde, aber sie stand und steht immer für eine Welt, die einfacher und übersichtlicher war. Und so stolperten die Deutschen ins 20 . Jahrhundert: sehnsüchtig nach dieser guten alten Zeit, gleichzeitig aber auch immer wieder begeistert von Fortschritt und Erfindergeist. So wurde damals z.B. der erste Pappbecher produziert, von da ab waren es dann nur noch schlappe hundert Jahre bis zum Siegeszug von
Coffee to go
. Eine Frau erfand den Scheibenwischer, da sie fürchtete, zu spät zu ihrem Termin zu kommen, wenn der Taxifahrer im Regen alle paar Meter aussteigen muss, um die Scheiben zu putzen. Sie ersann die Gummilippe, die mit einem Drehknopf von innen hin und her geschwenkt werden konnte und die vom Prinzip, nur elektrisch angetrieben, noch heute so verbaut wird.
Die schönste Erfindung meldete aber Georg Borries beim Berliner Patentamt an: einen Weckautomaten, der einen nur weckt, wenn draußen schönes Wetter ist.
Ich hätte den sofort gekauft und als Hamburger nach einem Jahr wahrscheinlich gedacht: Der ist wohl kaputt.
1643 bis 1815
Der Franzosen bester Auftritt: glamourös, furios, kurios
Von Napoleon lernen, wie man sich vorm Abwasch drückt
Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.
Napoleon Bonaparte
«Kinder an die Macht» heißt ein beliebtes Lied von Herbert Grönemeyer. Es vermittelt die Hoffnung, alles würde besser laufen, wenn eben nicht Erwachsene, sondern Kinder regierten. Zwar haben Psychologen in Verhaltenstests herausgefunden, dass Kinder schon für die Wiedererlangung eines Dreirades, das man ihnen weggenommen hat, ohne zu zögern Atomraketen zünden würden, manche sogar schon für ein Stück Schokolade. Trotzdem bleibt die vage Hoffnung, Kinder seien irgendwie die besseren Menschen.
Frankreich hat die Utopie Grönemeyers bereits vor einigen Jahrhunderten ausprobiert, als der kleine Louis im Alter von nur vier Jahren König wurde. Louis ist heute wieder ein gern verwendeter Name und wirkt auch nur mit dem Zusatz «der Vierzehnte» exzentrisch. Meist tragen selbstbewusste Kinder diesen Namen. Wenn die Erzieherin in der Kita sagt: «Du störst die ganze Gruppe, wenn du die Märchen- CD bis zum Anschlag aufdrehst», kommt schon mal ein: «La garderie? C’est moi!» Die Kita? Das bin ich.
Mit der Machtübernahme eines Vierjährigen beginnt 1643 eine beispiellose Erfolgsgeschichte Frankreichs, insofern hat Grönemeyer recht: Das Kind hat sich für die Franzosen gelohnt. Das ist auch der Grund, warum sie erst jetzt im Fokus des Buches stehen, denn die Zeit, in der sie Europa maßgeblich und mehr als alle anderen geprägt haben, fällt zwischen den großen Hit «Kinder an die Macht» mit Louis XIV 1643 und dem Flop «Waterloo» von Napoleon 1815 .
So wie die Deutschen in der Frühen Neuzeit über sich hinauswuchsen, taten es in dieser Zeit die Franzosen.
Vorige Herrscher wie Heinrich IV . blieben nur mit kleineren Dingen in Erinnerung, wie mit dem Versprechen: «Jeder Bauer soll am Sonntag ein Huhn im Kochtopf haben.» Eine Ausnahme in der französischen Geschichte stellt bis hierhin eigentlich nur Karl der Große ( 748 bis 814 ) dar, der sich dem Trend des
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