Von Natur aus kreativ
durch unsere ganze Lebensgeschichte gehen, können wir nur ein paar Hundert Bilder aufrufen, mehr ist in unserem inneren Museum offenbar nicht aktivierbar. Es findet also ein enormer Bildverlust statt. Nur solche Bilder werden aufbewahrt, die eine große persönliche Bedeutung haben.
Interessant ist, wie die aufbewahrten Bilder in unserem Kopf aussehen. Sie unterscheiden sich von reinen Fotografien oder Filmaufnahmen. Aus der Beschaffenheit der Bilder können wir einiges über die Funktion der inneren Bilder ableiten: Sie helfen uns, kreativ zu werden. Unsere inneren Bilder sind (1) manchmal multisensorisch, zudem neigen sie (2) zum Verblassen und Verwischen, und schließlich enthalten sie (3) uns selbst als Doppelgänger.
Beginnen wir bei Punkt eins: Vor allem bei Erlebnissen des Schreckens oder der Freude werden die visuellen Erfahrungen manchmal durch andere Sinneseindrücke begleitet: Wir hören etwas, ein Musikstück oder unsere eigene Stimme. Beim Bild aus einer Liebesbeziehung riechen wir den anderen, spüren seine Haut oder werden selbst berührt. Doch der Haupteindruck bleibt visuell: Die Bilder, die wir in uns tragen, sind immer vor uns, sie beziehen sich auf die Blickachse und einige Grad Sehwinkel um die Blickachse herum. Das ist bemerkenswert, denn es wäre ja auch denkbar, dass die inneren Bilder an einer anderen Stelle in unserem Gehirn dargestellt werden. Dies aber weist darauf hin, dass beim Aufrufen der Bilder bestimmte Strukturen des menschlichen Gehirns angesprochen werden, in denen das Gesichtsfeld repräsentiert ist, nämlich jene, die für die Objektwahrnehmung notwendig sind und nicht etwa andere, was auch denkbar wäre. Die Bilder sind also denen ähnlich, die wir tatsächlich sehen.
Die Bilder haben allerdings nicht lange Bestand. Alle Probanden berichteten, wie sie sich wieder auflösen. Über Tage bis Jahre hinweg kommt es zu einem Verwischen der Konturen und einem Verblassen der Farbe. Dies führt uns zu einer grundsätzlichen Frage der Hirnforschung: Wie sind Informationen, die uns die Sinnesorgane übermitteln, überhaupt im Gedächtnis repräsentiert? Eher als sensorische Abbildung dessen, was man gesehen oder gehört hat, oder eher als kognitive Konstruktionen auf einer abstrakten Ebene, also propositional? Das bedeutet: Sehen wir die Bilder wirklich vor unserem inneren Auge, oder rekonstruieren wir sie aufgrund von Fakten, an die wir uns erinnern? Wir haben herausgefunden, dass man aufgrund des Verblassens und Verwischens der Bildinhalte davon ausgehen muss, dass die Bilder tatsächlich zunächst bildlich im Gehirn repräsentiert sind. Allerdings können sie, vor allem wenn siesehr lange eingespeichert sind, auch eine propositionale Komponente erhalten. Das heißt, man setzt nachträglich Fakten bildhaft in das eigene Erinnerungsbild ein – so kommen die verzerrten Zeugenaussagen bei der Polizei zustande.
Die Bilder, die wir in uns tragen, sind demnach keine korrekten Abbildungen der Welt. Damit kommen wir zu Punkt drei. Wir verwandeln die Bilder kreativ und passen sie an unsere persönliche Lebensgeschichte an. Dies ist unter anderem daraus abzuleiten, dass man selbst in den eigenen Bildern vorkommt. Wenn man sich an seine frühe Kindheit erinnert, sieht man sich zunächst in einigen Bildern selbst als Kind. Somit sind die Bilder also nicht aus der Perspektive des damaligen Kindes eingespeichert, sondern in einer Außenperspektive, in der das eigene Selbst in das Bild integriert wird. Doch damit nicht genug: Bei einem sehr großen Zeitabstand ist man möglicherweise zusätzlich auch als heutige Person in das Kinderbild integriert, als sein eigener Großvater oder seine eigene Großmutter.
Die Verdopplung seiner selbst ist die Grundlage dafür, dass man überhaupt von sich selbst als „Ich“ sprechen kann. Man nimmt in einer bildlichen Weise auf sich selbst Bezug und sieht sich selbst als von allem anderen unterscheidbares Wesen. Dies garantiert Identität. Die persönliche Identität ist also eine kreative Leistung des menschlichen Gehirns. Wir erfinden Geschichten, um die eigene Kontinuität zu gewährleisten. Diese Geschichte unseres Lebens, zu der auch die Bilder einfließen, die aus Erzählungen unserer Vorfahren stammen, wird als „historische Präsenzzeit“ bezeichnet. Wir tragen unser eigenes lebendiges Geschichtsbuch in uns. Das Tragische an Demenzen ist deshalb nicht alleine der Gedächtnisverlust, sondern dass es durch den Verlust dieser Zeitreisen in die eigene
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