Von Natur aus kreativ
neuralgischen Punkte: Wochenenden, Geburtstage, Silvester. Markus hätte sich zerteilen müssen, um es allen recht zu machen. So erfand er viele phantasievolle Gründe, warum er nicht zur Verfügung stand. Doch irgendwann machte das Umfeld nicht mehr mit.
Seine Freundin Simone bekam heraus, dass er sie belog und neben ihr noch eine Ehefrau und eine zweite Geliebte hatte. Es war eine Kleinigkeit, die Markus auffliegen ließ, nämlich ein aus Versehen aus seiner Jacketttasche herauslugendes Flugticket, ausgestellt auf den Namen einer anderen Frau. „Wer ist Markus?“, fragte sich Simone. „Der liebende Mann, den ich kennengelernt habe? Ein kaltherziger Lügner, nur auf seinen Vorteil bedacht?“
„Wer bin ich?“, fragte sich auch Markus, nachdem er von so vielen angefeindet wurde. „Ein verlogener Drecksack?“ Er hatte die Gewissheit über seine Identität eingebüßt und das Lügen so sehr verinnerlicht, dass er sich selbst nicht mehr zu glauben vermochte. Gefallsüchtig und angewiesen auf die vielen Frauen, um sich selbst zu bestätigen, hatte er seine Mitte verloren.
Geschichten rund um seine eigene Identität zu konstruieren, war bei Markus zunächst einmal ein Überlebensprinzip. Er musste sich etwas einfallen lassen, um bei seinen Klassenkameraden nicht zum Außenseiter zu werden. Die damals entdeckte Kreativität setzte er dann im Laufe seines Lebens immer wieder in kritischen Situationen ein, gerade wenn es galt, heimlich mehrere Beziehungen parallel zu führen. „Ich habe nach Liebe gesucht, und über den Sex mit vielen Frauen habe ich sie bekommen. Das war lange mein Hauptlebensziel“, sagt Markus heute. Kreativität dient also auch dazu, Erklärungen für sich selbst zu finden und sich seine eigenen Schwächen nicht selbst eingestehen zu müssen. Hieran ist zu sehen, was alles im Prinzip der Kreativität steckt. Kreativität ist nämlich wertfrei. Sie ist nicht nur dazu da, das Leben bunter und reicher zu machen, wie wir es bislang gesehen haben. Kreativität ist vor allem ein Werkzeug, um eine innere Ausgewogenheit wiederherzustellen und mit der eigenen personalen Identität wieder ins Reine zu kommen.
Als Identität wird in der Psychologie die als „Selbst“ erlebte innere Einheit der Person bezeichnet. Die Erlebnisse, die Gefühle, die Einstellungen, Stärken und Schwächen – alles fließt in die Identität mit ein. Kann man aber noch von Identität sprechen, wenn man, wie wir alle, im Leben die verschiedensten Rollen spielt? Ist die Identität selbst nur eine Rolle?
Tatsächlich sind wir nicht immer nur wir selbst. Wir nehmen so viele Anregungen und Einflüsse unserer Umwelt auf, dass diese nicht nur die Identität mitformt, sondern mehr noch: In manchen Situationen scheint der Teil, der einen selbst ausmacht, auf ein Minimum heruntergeschraubt. In anderen Situationen hingegen hat man wieder das Gefühl, man bringe sich maximal in ein Geschehen ein. Es besteht also eine Komplementarität zwischen dem Inneren und der Umwelt eines Menschen.
So nahm Markus bei jeder Frau eine andere Rolle ein, weil die Anforderungen an ihn immer verschiedene waren. Seine Ehefrau sah in ihm den Versorger und Vater der gemeinsamen Kinder. Die Freundin suchte mit ihm den geistigen Austausch und die Sexualität. Die Sekretärinnen waren oftmals einfach nur gefügig. Und so konnte er bei jeder Frau einen anderen Aspekt seines Selbst ausleben. Das Einnehmen von unterschiedlichen Rollen ist psychologisch betrachtet durchaus sinnvoll. Hätte man nur eine Rolle, kann dies umgekehrt zu einer Identitätsüberforderung führen, zumindest dann, wenn man in dieser Rolle für einen Partner alles erfüllen soll: von der Lust auf die gleichen Reiseziele über geteilte kulturelle Interessen, politische Vorstellungen, den Kleidungsstil bis zur Sexualität. Dies alles sind verschiedene Rollen, die mit einer einzigen Person verknüpft werden. Dass sich zwei Partner treffen, bei denen Zufriedenheit in allen Bereichen herrscht, ist unmöglich. Der Anspruch geht am menschlichen Maß vorbei.
Es ist also menschlich und normal, verschiedene und zum Teil sehr unterschiedliche Rollen einzunehmen. Und doch haben die meisten bei all dem das Gefühl, sie würden als einheitliche Person handeln. Wie geht das? Eine Erklärung finden wir in der Prinzipal-Agent-Theorie: Weil wir selbst Erinnerungen an unsere verschiedenen Rollen haben, erscheinen wir uns selbst wie der Auftraggeber unserer eigenen Lebensepisoden, der Prinzipal. Der Agent
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