Von Natur aus kreativ
mit dafür gesorgt, dass man als Scheintoter nicht zu früh beerdigt wird.
A rglos und harmlos,
Durchs Leben hin,
Kommt mir das Böse
Nicht in den Sinn!
Arglos und harmlos,
Glücklich ich bin,
Hör ich das Böse,
Denk ich nicht hin!
Welch eine großartige Leistung, dort nicht „hinzudenken“, wo es Unerfreuliches gibt. Es ist aber eher unwahrscheinlich, dass Sigmund Freud bei der Entwicklung seines Konzepts der Verdrängung durch Friederike Kempner beeinflusst wurde. Die semantische Kompetenz, und wie man in ihre Falle geraten kann, weil Wörter mehrdeutig sein können, macht Heinz Erhardt in zwei kurzen Gedichten zum Thema, nämlich in „Anhänglichkeit“ und „Urlaub im Urwald“:
Das Kind hängt an der Mutter,
der Bauer an dem Land,
der Protestant an Luther,
das Ölbild an der Wand.
Der Weinberg hängt voll Reben,
der Hund an Herrchens Blick,
Der eine hängt am Leben,
der andere am Strick …
Ich geh’ im Urwald für mich hin …
Wie schön, daß ich im Urwald bin:
man kann hier noch so lange wandern,
ein Urbaum steht neben dem andern.
Und an den Bäumen, Blatt für Blatt,
hängt Urlaub. Schön, daß man ihn hat!
Welche anderen Sprachen außer dem Deutschen gibt es eigentlich, in denen sich dichterische Kreativität entfalten kann, indem Wortkolosse geschmiedet werden wie in „Sommermädchenküssetauschelächelbeichte“ von Jodok (Hanns Freiherr von Gumppenberg)? Es ist bemerkenswert, dass trotz der übermäßigen Wortlängen jede Verszeile dennoch der Drei-Sekunden-Regel gehorcht; jede Verszeile füllt das Zeitfenster der subjektiven Gegenwart aus, und jede Verszeile lässt ein eigenes inneres Bild entstehen:
An der Murmelrieselplauderplätscherquelle
Saß ich sehnsuchtstränentröpfeltrauerbang:
Trat herzu ein Augenblinzeljunggeselle
In verwegnem Hüfteschwingeschlendergang,
Zog mit Schäkerehrfurchtsbittegrußverbeugung
Seinen Federbaumelriesenkrempenhut –
Gleich verspürt ich Liebeszauberkeimenneigung,
War ihm zitterjubelschauderherzensgut.
Nahm er Platz mit Spitzbubtückekichern,
Schlang um mich den Eisenklammermuskelarm!
Vor dem Griff, dem grausegruselsiegessichern,
Wurde mir so zappelseligsiedewarm.
Und er rief: „Mein Zuckerschnuckelputzelkindchen,
Welch ein Schmiegeschmatzeschwelgehochgenuß!“
Gab mir auf mein Schmachteschmollerosenmündchen
Einen Schnurrbartstachelkitzelkosekuß.
Da durchfuhr mich Wonneloderflackerfeuer –
Ach, es war so überwinderwundervoll …
Küßt’ ich selbst das Stachelkitzelungeheuer,
Sommersonnenrauschverwirrungsrasetoll!
Schilt nicht, Hüstelkeifewackeltrampeltante,
Wenn dein Nichtchen jetzt nicht knickeknirschekniet,
Denn der Plauderplätscherquellenunbekannte
Küßte wirklich wetterbombenexquisit!
Hauptwörter und Tätigkeitswörter sowie Sätze haben immer einen Bezug zu etwas, doch können sie sich auch auf sich selbst beziehen, wie in den bekannten logischen Paradoxien: „Der folgende Satz ist falsch. Der vorhergehendeSatz ist richtig.“ Kognitive Kompetenz ist dann gefordert und gleichzeitig überfordert. Solche Selbstreferenzialität ist bei dem „Dreißigwortegedicht“ von Robert Gernhardt inszeniert:
Siebzehn Worte schreibe ich
auf dies leere Blatt,
acht hab’ ich bereits vertan,
jetzt schon sechzehn und
es hat längst mehr keinen Sinn,
ich schreibe lieber dreißig hin:
Dreißig.
Eines der bekanntesten Gedichte im Deutschen ist wohl „Das ästhetische Wiesel“ von Christian Morgenstern. Auch hier geht es um Selbstreferenzialität, und wiederum ist unsere kognitive Kompetenz gefordert:
Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wißt Ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinier-
te Tier
tat’s um des Reimes willen.
Die linguistischen Kompetenzen, die zu unserer biologischen Ausstattung gehören und ohne die wir gar nicht kommunizieren könnten, sind also eine reiche Spielwiese für dichterische Kreativität. Doch in Gedichten wird manchmal auch Bild-Kompetenz gefordert; neben dem Inhalt wird eine besondere Erscheinungsweise gewählt, die weitere Assoziationen erschließt, wie bei Matthias Polityckis „Weniger guter Geruch“:
Man muss als Naturforscher dem Dichter auch deshalb dankbar sein, weil er den oft vergessenen olfaktorischen Sinn besingt. Es ist sehr viel leichter, einen Bezug zu den anderen Sinnen wie dem Sehen, Hören oder Tasten herzustellen; für das Riechen gibt es keine unmittelbaren Bezeichnungen, sondern man kann immer nur
Weitere Kostenlose Bücher