Von Natur aus kreativ
allen Sprachen beobachten und zeigt sich auch in Gedichten: Die Sprechdauer eines Verses beträgt bis zu etwa drei Sekunden, und man spricht automatisch etwas langsamer, wenn zum Beispiel nicht zehn, sondern sechs Silben in einer Verszeile enthalten sind. Ein Beispiel dafür ist das Gedicht „Die Schnupftabaksdose“ von Joachim Ringelnatz:
Es war eine Schnupftabaksdose,
Die hatte Friedrich der Große
Sich selbst geschnitzelt aus Nußbaumholz.
Und darauf war sie natürlich stolz.
Da kam ein Holzwurm gekrochen.
Der hatte Nußbaum gerochen.
Die Dose erzählte ihm lang und breit
Von Friedrich dem Großen und seiner Zeit.
Sie nannte den alten Fritz generös.
Da aber wurde der Holzwurm nervös
Und sagte, indem er zu bohren begann:
„Was geht mich Friedrich der Große an!“
Natürlich kann man auch etwas zum Inhalt dieses Gedichts sagen, dass nämlich jede Handlung vom Kontext abhängig ist, dass der Rahmen jeweils die Interessenlage vorgibt, dass also jemand keine historischen Reflexionen anstellen mag, wenn es um elementare Bedürfnisbefriedigung geht. Hier ist also auch die pragmatische Kompetenz angesprochen und es wird wiederum auf die zwei Zustände des Bewusstseins Bezug genommen; man kann sich einfach nicht verstehen, wenn die Interessenlagen so verschieden sind.
Die zeitliche Segmentierung gilt für alle Sprachen, wie der amerikanische Dichter Fred Turner und ich meinen; wir haben natürlich nicht alle Sprachen untersuchen können, aber unsere Stichprobe war groß genug, um diese Theseetwa mit Beispielen aus europäischen oder asiatischen Sprachen zu vertreten. Hier seien noch zwei Verszeilen aus dem Englischen von Alexander Pope zitiert, die zugleich das wohl größte Kompliment enthalten, das ein Dichter jemals einem Naturwissenschaftler gemacht hat:
Nature und nature’s laws lay hid in night;
God said, „Let Newton be!“ and all was light.
Natur lag, und Naturgesetz, in Finsternis;
Gott sprach: „Es werde Newton!“ und das All ward Licht.
Mit der sprachlautlichen Kompetenz, mit den Konsonanten und Vokalen, die Sprechen überhaupt erst ermöglichen, spielen manche Dichter mit erkennbarem Vergnügen, so etwa Hermann Hesse, der sich in Kreisen mancher Fachgelehrten augenblicklich nicht der größten Aufmerksamkeit erfreut. In seinem „Ein Wallfahrer-Lied. Von Vögeln gesungen“ hat es ihm der Konsonant „w“ angetan:
Die Woge wogt, es wallt die Quelle,
Es wallt die Qualle in der Welle,
Wir aber wallen durch die Welt,
Weil nur das Wallen uns gefällt.
Wir tuns nicht, weil wir wallen sollen,
Wir tun es, weil wir wallen wollen.
Wer nur der Tugend willen wallt,
Kennt nicht des Wallens Allgewalt.
Sie wallt und waltet über allen,
Die nur des Wallens willen wallen.
In dem Gedicht „Gedeuchtittis“ von Matthias Koeppel, das sich vor allem mit Vokalen befasst, kann man neben der sprachlautlichen auch die prosodische, pragmatische und wiederum temporale Kompetenz studieren und zudem eine ungewöhnliche Art von Kreativität bewundern, wobei sich wohl nicht jedem jedes Wort sofort in seiner normalsprachlichen Bedeutung erschließt:
G edeuchtittis üßt ain Gedeucht
wann zich’s roimt, zunst üßt äßß schleucht.
Duch dr Deuchtur, dr mudarrne,
tschraubt ünn Prausur ollzegarne.
Bastenpfullz n pfreiwen Rheytmen –
duch diss karrn onz nüchtz bedeutmen!
Düüfar Düüfzinn, ongeroimt,
üßt vi’n Vaip, dißß nücht tschatscheumt,
wann äßß zomm Urrgaustmoßß kömmt,
jarr, su üßt äss; jarr düßß stömmt.
Die syntaktische Kompetenz kann auch eine gewisse Rätselhaftigkeit besitzen. Kreativität zeigt sich dann insbesondere in der Entflechtung von Syntax und Semantik, wie Beatrice Wagner hier gedichtet hat:
Im Zug da kam der Maienbaum.
Von hinten durch den See.
Ein Augenschlag, ein Zauberwerk,
Fünf Minuten nur und der Genuss.
Basilikum, Drei-Cent-Ideen,
Dunkel-heiß, das lieb ich sehr.
Widerstand zwecklos riech ich,
soll ich auf das Wagnis berühren?
So sind sie denn zum Schmelzen rein,
ab ohne mir verlangt.
Der „schlesische Schwan“ Friederike Kempner hat ein abenteuerliches Gedicht zur semantischen Kompetenz verfasst, das sich auf eine zentrale Thematik dieses Buches bezieht, nämlich darauf, stets ein inneres Gleichgewicht anzustreben und zum Erreichen dieser mentalen Homöostase seine Kreativität zu nutzen. Ihr kommt im Übrigen ein großes politisches Verdienst zu, denn sie hat im 19. Jahrhundert durch intensives gesellschaftliches Engagement
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