Von Natur aus kreativ
der Vogelweide sieht:
wo kräuter gut gewachsen sind
in einem grünen garten
da lasse sie ein kluger mann
nicht ohne seinen schutz
er mag sie hüten wie ein Kind
nach ihren eigenarten
das regt die lust des herzens an
und kommt ihm sehr zunutz
s prießt unkraut in den beeten
so muß er kräftig jäten
und darf sich nicht verspäten
daß distel nicht und dorn
sich darin listig mehren
die arbeit sehr erschweren
er muß es ihnen wehren
sonst ist die müh verlorn
Es mag erstaunen, doch ich komme immer wieder auf das dichterische Werk von Joachim Ringelnatz, auch wenn es um das Prinzip der Komplementarität geht. Seine Gedichte zeichnen sich durch eine großartige Bildkraft aus, die trotz aller surrealistischen Elemente oder vielleicht gerade deswegen eine große „Ich-Nähe“ erzeugen: Sie gehen ans Herz. Auch das „Abendgebet einer erkälteten Negerin“ lebt vom Komplementaritätsprinzip:
Ich suche Sternengefunkel.
Sonne brennt mich dunkel.
Sonne drohet mit Stich.
Warum brennt mich die Sonne im Zorn?
Warum gerade mich?
Warum nicht Korn?
Ich folge weißen Mannes Spur.
Der Mann war weiß und roch so gut.
Mir ist in meiner Muschelschnur
So negligé zu Mut.
Kam in mein Wigwam
Weit übers Meer,
Seit er zurückschwamm,
Das Wigwam blieb leer.
Drüben im Walde
Kängt ein Guruh –
Warte nur balde
Kängurst auch du.
Es ist natürlich auch eine Frechheit, in dieser Weise zu blödeln und eines der bekanntesten Gedichte von Goethe zu verfremden und in die eigene Gedankenflut einzubauen („Wandrers Nachtlied“ mit dem Vers „Über allen Gipfeln ist Ruh“). Aber: Man liest jetzt das Goethe-Gedicht plötzlich mit neuer Aufmerksamkeit. Die Komplementarität von realistischer Trauer und surrealistischem Kommentar weist hier darauf hin, dass unser Konzept von Realität recht brüchig ist. Woher wissen wir eigentlich, dass die Welt so ist, wie sie ist? Dieses Unplausible, mit dem wir stets umzugehen haben, wird auch in dem Gedicht „Logik“ von Ringelnatz deutlich. Wiederum wird Komplementarität als dichterisches Prinzip angewandt:
Die Nacht war kalt und sternenklar,
Da trieb im Meer bei Norderney
Ein Suahelischnurrbarthaar. –
Die nächste Schiffsuhr wies auf drei.
Mir scheint da mancherlei nicht klar,
Man fragt doch, wenn man Logik hat,
Was sucht ein Suahelihaar
Denn nachts um drei am Kattegatt?
In der Tat: Wie kommt etwas wohin? Warum ist etwas überhaupt irgendwo? Wieder eine dieser Warum-Fragen. Das Grundgeschäft der Wissenschaft ist, zu staunen und etwas zu sehen, das bisher übersehen wurde. Dieses Schnurrbarthaar ist wissenschaftlich betrachtet ein „outlier“, etwas, das nicht dorthin gehört, wo es ist. Dies ist es aber gerade, was den Forscher herausfordert, mit offenen Sinnen durch die Welt zu gehen und Besonderheiten aufzudecken. Dass man dabei manchmal auch aus der Bahn geworfen wird, das gehört dazu. Dass man dabei jedoch auch seine Mitte verlieren kann, beschreibt Gottfried Benn in „Was schlimm ist“:
Wenn man kein Englisch kann,
von einem guten englischen Kriminalroman zu hören,
der nicht ins Deutsche übersetzt ist.
Bei Hitze ein Bier sehn,
das man nicht bezahlen kann.
E inen neuen Gedanken haben,
den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann,
wie es die Professoren tun.
Nachts auf Reisen Wellen schlagen hören
und sich sagen, daß sie das immer tun.
Sehr schlimm: eingeladen sein,
wenn zu Hause die Räume stiller,
der Café besser
und keine Unterhaltung nötig ist.
Am schlimmsten:
Nicht im Sommer sterben,
wenn alles hell ist
und die Erde für Spaten leicht.
Mancher wird auch aus der Bahn geworfen, wenn kein Verlass mehr ist auf die Sinn-Instanzen der Gesellschaft, also insbesondere die Kirchen. Hierzu meint Erich Kästner mit „Neues vom Tage“:
Da hilft kein Zorn. Da hilft kein Spott.
Da hilft kein Weinen, hilft kein Beten.
Die Nachricht stimmt! Der Liebe Gott
ist aus der Kirche ausgetreten.
Doch dann kann sich so mancher mit Arthur Schopenhauer und seinem kurzen „Gebet eines Skeptikers“ trösten, das uns in ein besonderes philosophisches Gestrüpp bringt:
Gott, – wenn du bist, – errette aus dem Grabe
Meine Seele, – wenn ich eine habe.
Eine fundamentale philosophische Frage, die auch in den Neurowissenschaften bedacht wird, ist jene nach der Beziehung von Gehirn und Geist; wie hängen Leib und Seele zusammen? Wir sind entweder Dualisten, meinen also, dass wir es mit zwei prinzipiell verschiedenen Substanzen zu
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