Von Natur aus kreativ
sagen, wie etwas riecht. Neben einem solchen „Geruchstrichter“ gibt es auch den ehernen optischen Block, den Raoul Schrott manchmal benutzt, wie hier bei einer Übersetzung des Gedichts eines der Urväter abendländischer Poesie, des griechischen Dichters Archilochos:
Dieses begehren nach ihren armen ihrer umarmung wie eine schlange die sich unter dem herz windet daß mir das blut stockt · schwarz rinnt es mir über die augen als würde sie durch meinen hals sich beißen und
ihre zunge meine sein – elend
lieg ich da im bett im dunkeln und die gier gräbt sich in den bauch ein und ins hirn · ein einziger schmerz wie ein nagel durch meine knochen daß ich mich nur krümm und wind
Mit dem optischen Block und der rechteckigen Ordnung wird der Kontrast zum Inhalt des Gedichts, den beschriebenen Liebesqualen, noch verstärkt. Doch es gibt in manchen dichterischen Ausdrucksformen auch mathematische Regeln, die es zu beachten gilt. Diese bestimmen die japanische Gedichtform des Haikus: drei Zeilen, in denen fünf, sieben und wieder fünf Silben aufeinanderfolgen. Wenn man sich selber an einem Haiku versucht (was eine ausgezeichnete gedankliche Übung ist), dann spürt man, wie der formale Rahmen dazu zwingt, einen Gedanken knapp und klar zu fassen. Viele Haikus beziehen sich auf die Jahreszeiten – hier einige Beispiele:
Neujahr (von Shiki)
Erster Tag im Jahr.
Nichts ist böse, nichts ist gut,
Sondern alles lebt.
Frühling (von Chora)
Von der Nachtigall
Süßem Sange angelockt,
Geht die Sonne auf.
S ommer (von Buson)
Schuhe in der Hand
Wat’ ich durch den Sommerfluß.
Herrliches Gefühl.
Herbst (von Basho)
Nun beginnt der Herbst.
Meer und Felder zeigen jetzt
Ganz das gleiche Grün.
Winter (von Hosha)
Still wird mein Gemüt,
Wenn es tief im dunklen Wald
Von den Bäumen tropft.
Schließlich sei noch auf eine weitere Gedichtform hingewiesen, die mathematischen Regeln folgt. Sie wird interessanterweise Charles Darwin im Rahmen einer seiner Nebenbeschäftigungen zugeschrieben, taucht aber wohl erstmals im japanischen Kontext bei Mitsukoshi auf. Hier gilt es, in fünf aufeinanderfolgenden Zeilen mit 9, 4, 1, 4 und 9 Silben einen Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Mathematisch ist diese Struktur insofern interessant, als das Folgende für die fünf Zeilen gilt (wobei man sich ein wenig an seine Schul-Mathematik erinnern mag): 9 = 3 hoch 2; 4 = 2 hoch 2; 1 = 1 hoch 2; 4 = 2 hoch 2; und nochmals 9 = 3 hoch 2. Die fünf Zeilen sind also durch den Exponenten 2 gekennzeichnet. Addiert man alle Silben, dann hat das Gedicht 27 (= 3 hoch 3) Silben; es gilt 3 als Exponent.
Hier wird eine Frage aus der mathematischen Zahlentheorie angesprochen: Welches ist eigentlich „die erste Zahl als Zahl“? Meist wird 1 genannt, manchmal auch 0, doch gibt es auch Gründe, die 3 als Kardinalzahl oder „das 3.“ als Ordinalzahl, als „erste Zahl“ zu wählen. Die Antwort auf diese Frage ist bemerkenswerterweise in der Mathematik offen. Ein Beispiel eines solchen „Sanduhr-Gedichts“ ist in freier Übersetzung:
Wo immer du auch verborgen bist,
Ich finde dich,
Zeit,
Erfülle mich
Mit meiner Sehnsucht und Ungeduld.
Eine besondere Herausforderung ist es, Gedichte zu konstruieren, die wirklich wie eine Sanduhr funktionieren, dass man sie also von oben nach unten und von unten nach oben lesen kann, wie in dem angegebenen Beispiel.
Philosophische Themen
Das Ziel alles Lebendigen ist, ein Gleichgewicht oder eine Homöostase herzustellen und diese unter Einsatz von Kreativität wiederherzustellen, wenn man aus der Balance gekommen ist. Dies gilt auch für uns, und es gilt auf allen Ebenen, der biologischen, psychologischen und sozialen. Wie wird solche „Mittigkeit“ gewährleistet? Als ein Mechanismus für die Regelung des Gleichgewichts, um die innere Waage in der Balance zu halten, dient das Prinzip der Komplementarität. Es geht nicht darum, immer nur eine Ursache zu finden, die grundlegende Überlegung ist vielmehr, dass wie im chinesischen Yin und Yang (die das männliche und weibliche Prinzip repräsentieren), mindestens zwei Elemente zusammenkommen müssen, um Stabilität zu erzeugen. Zwei solche Elemente sind beispielsweise „Ich“ und „Du“, wie es der jüdische Weise Martin Buber im Hinblick auf Selbst-Identität beschrieben hat, oder es sind ich selbst und das Buch, das ich in der Hand halte und dessen Inhalt mich fasziniert, oder es sind ich selbst und der gepflegte Garten, wie ihn Walther von
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