Von Natur aus kreativ
in diesem etwas anderen Literaturverzeichnis. Kant schreibt: „ Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen, dennoch gern zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“ Nach Kant gibt es also eine klare Antwort auf die Frage, wie wir gemeint sind: Mutter Natur hat uns die Freiheit gegeben, mit Mut unser Leben zu gestalten.
I vo Kohler: Über Aufbau und Wandlungen in der Wahrnehmungswelt, Wien: Rohrer 1951.
Ivo Kohler war sicher einer der unkonventionellsten Forscher in der Psychologie, und ich schätze mich glücklich, sein Doktorand gewesen zu sein. Er fand Fakultätssitzungen außerordentlich langweilig, und so nahm er in eine Sitzung einmal weiße Mäuse mit, die er während der langatmigen Ausführungen von Kollegen für seine anstehenden Experimente trainierte. Auf Frage des Vorsitzenden, warum er das mache, erwiderte er, dass dies wichtiger sei als das, was in der Sitzung verhandelt würde. So macht man sich natürlich nicht unbedingt Freunde. In der angegebenen Abhandlung wird das wohl am längsten dauernde Experiment beschrieben, das jemals in der Psychologie durchgeführt wurde: Es dauerte 124 Tage, vom November 1946 bis zum März 1947, und Kohler selbst war die Versuchsperson. Er trug eine Brille, die die Welt auf den Kopf stellte, und er wollte wissen, ob sich das Seh-System an die umgedrehte Welt anpassen kann. Das geschah in der Tat; die Welt richtete sich wieder auf und Kohler fuhr mit der Umkehrbrille sogar Motorrad und ging Skilaufen. Als er die Brille nach 124 Tagen abnahm, dauerte es wieder einige Zeit, bis er normal sehen konnte. Wenn man sich bewusst macht, dass dieses Experiment unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchgeführt wurde, dann wird deutlich, wie sehr hier jemand trotz schwieriger äußerer Umstände vom Wissensdurst getrieben war. Kohlers Experimente wurden zur Grundlage der modernen Untersuchungen zur Plastizität des Nervensystems, wie sie nun weltweit auch auf der Ebene von einzelnen Zellen im Gehirn durchgeführt werden.
Ernst Kretschmer: Körperbau und Charakter, 25. erg. Aufl., Berlin: Springer 1967 (zuerst 1921).
In Kretschmers Werk drückt sich die Sehnsucht aus, von der äußeren Erscheinung auf die innere Welt eines Menschen zu schließen. Man fragt sich allerdings, ob diese Sehnsucht nach Ordnung unserem kreativen Denkapparat nicht einen Streich spielt. Es könnte sein, dass unsere Wahrnehmung Kategorien erfindet, die nur unsere Erwartung bestätigen, also beispielsweise, dass untersetzte und eher rundliche Menschen (Kretschmer nennt sie „Pykniker“), eher gemütlich, gesellig und häufig sehr kreativ sind, während andere, die eher lang und dünn sind, eher kompliziert und sprunghaft sind. Bevor man diese Idee als absurd ablehnt, sei auf eine persönliche Beobachtung hingewiesen. Vor Kurzem begleitete ich Eva Ruhnau als Kofferträger zu einem Kongress in Paris, bei dem theoretische Physiker ihre Gedanken austauschten. Vom Inhalt des Vorgetragenen verstand ich nichts, sodass meine Aufmerksamkeit auf die äußere Erscheinung der Vortragenden gezogen wurde. Mir fiel auf, dass eine Mehrzahl der Redner eher lang und dünn war, in der Terminologie von Kretschmer also „leptosom“. Ich machte eine Strichliste und konnte etwa drei Viertel der Redner den Leptosomen zuordnen. Dann ging es zum „Kontrollexperiment“ in den Jardin du Luxembourg, und ich zählte, wie viele der zufällig vorbeikommenden Männer leptosom waren – etwa ein Viertel. Die Zahlen reichten aus, um einen Chi-Quadrat-Test, also eine statistische Bewertung, durchzuführen: Der Befund war hoch signifikant. Schlussfolgerung: Theoretische Physiker sind eher leptosom. Nun stellt sich die Frage: Ist die Weise des Denkens, wie sie vielleicht typisch für einen theoretischen Physiker ist, eher in einem langen und dünnen Körper zu Hause? Ist
Weitere Kostenlose Bücher