Von Ratlosen und Löwenherzen
altenskandinavischen Rechtsbräuchen, andere mit Williams Frömmigkeit, die ihn veranlasste, Übeltätern »nur« irgendwelche Gliedmaßen abzuhacken und so die Chance zu geben, hier auf Erden noch für ihre Sünden zu büßen. Vermutlich war es den Dieben und Wilderern egal, aus welchen Beweggründen sie eine Hand oder ein Ohr oder die Genitalien verloren.
Einer der wenigen Menschen, die es wagten, William gelegentlich die Meinung zu sagen, war seine Frau, Matilda von Flandern. Er hatte sie etwa 1049 gegen das ausdrückliche Verbot des Papstes geheiratet, weil er ein Bündnis mit Flandern wollte, doch aus der Zweckehe muss wohl irgendwie Liebe geworden sein. Es heißt, William sei seiner Gemahlin niemals untreu gewesen – sehr schrullig für einen Herrscher seiner Zeit. Die beiden müssen ein seltsames Paar abgegeben haben. Weil anlässlich einer Umbettung die Skelette vermessen wurden, wissen wir, dass William fast 1,80 m groß war – wahrhaft eine Hüne für seine Zeit –, Matilda aber nicht einmal 1,30 m. Dennoch war sie wie so viele Königinnen des englischen Mittelalters eine Löwenbändigerin, und gelegentlich hörte William sogar auf sie. Die beiden hatten vier Söhne, von denen überdurchschnittlich viele, nämlich drei, das Erwachsenenalter erreichten. (Richard, der Zweitälteste, starb bei einem Jagdunfall.) Und sie bekamen mindestens fünf Töchter. Vielleicht auch sechs. Das ist nicht so genau bekannt, weil die Mädchen natürlich nicht so wichtig waren.
Kaum war William 1067 in die Normandie gereist, begann sich in England Widerstand zu regen, und das war exemplarisch für das zentrale Problem, vor welches die normannischen Könige sich gestellt fanden: Ihr Reich befand sich an zwei Ufern eines Meeres. Das fragliche Meer war zugegebenermaßen nur ein schmaler Streifen, aber es dauerte – je nach Strecke – doch zwischen 12 und 72 Stunden, ihn zu überqueren, und wenn der Wind nicht mitspielte, ging es gar nicht. Kaum war der König am einen Ufer, gab’s am anderen Scherereien. Mancheder Herrscher, die William nachfolgten, sind an dieser Tücke des Schicksals verzweifelt. Nicht so William, denn er mochte Scherereien. Er verstand sie als Herausforderung; eine Gelegenheit, der Welt zu beweisen, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Das merkten auch die Engländer sehr schnell. Jeder, der bei Hastings Waffen gegen William geführt hatte, und jeder, der sich in den Rebellionen der folgenden Jahre gegen den König erhob, wurde enteignet. Die auf diese Weise frei gewordenen Ländereien verteilte William an seine normannischen Adligen, und eine völlig neue soziale, wirtschaftliche und politische Ordnung wurde eingeführt, die wir heute Feudalismus nennen. Das stellt man sich am besten in Form einer Pyramide vor, und die funktionierte so: Oben an der Spitze stand der König. Grundsätzlich gehörte nämlich alles Land der Krone, in diesem Falle also William. Der verteilte Teilstücke seines Landes als »Lehen«, also eine Art Dauerleihgabe, an seine Vasallen. Diese zweite Ebene der Feudalpyramide setzte sich aus Adligen, Bischöfen und Klöstern zusammen. All diese Kronvasallen schuldeten dem König eine bestimmte Anzahl von Soldaten für eine bestimmte Anzahl an Tagen pro Jahr. Die Kronvasallen wiederum vergaben Teile ihrer Ländereien als Lehen an die dritte Etage unserer Pyramide, die sogenannten Aftervasallen. Diese Gruppe kam aus der unlängst erfundenen Ritterschaft und wurde so etwas wie der niedere Landadel. Auch dieser bestand fast ausschließlich aus Normannen. Die großen Verlierer dieser Bodenreform waren, das wird Sie kaum überraschen, die Engländer. Die einst so stolzen Bauern gerieten in eine juristische Abhängigkeit von ihren neuen Herren, weil die Kronvasallen und Aftervasallen über ihre Territorien eine gewisse Rechtshoheit besaßen. Hinzu kam bald auch wirtschaftliche Abhängigkeit, denn die Normannen pressten die Engländer aus, und wer nicht zahlen konnte, verlor sein Land und konnte es bestenfalls noch als Pächter bestellen. Die Pächter schuldeten ihren Herren nicht nur Pacht, sondern auch Fronarbeit. So wurde aus den einst freien Angelsachsen nach und nach einHeer von Leibeigenen. Obendrein behandelten viele der Normannen die einheimischen Bauern mit Arroganz und Herablassung, rümpften die Nase über ihre Bräuche und glaubten sich ihnen in jeder Hinsicht überlegen. Hinzu kam die Sprachbarriere. Kein Wunder also, dass das unterdrückte Volk sich im Zorn erhob. Aber es
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