Von Ratlosen und Löwenherzen
ihre Herkunft von Wotan und Thor ab. Nach der Christianisierung tauchten die beiden in den Stammbäumen nur noch unter »ferner liefen« auf, und die Abstammung des Königs ging geradewegs auf Jesus Christus zurück. Wir schmunzeln, aber diese Herleitung symbolisierte die besondere Nähe zwischen König und Gott, eine Art Vorstufe des Gottesgnadentums.
Trotz der im Stammbaum verbrieften Sonderstellung ging die Königswürde über lange Zeit nicht zwangsläufig vom Vater auf den ältesten Sohn über. Wie in so vielen Dingen waren die Angelsachsen auch darin pragmatisch: Starb der König, überlegten die Adligen und Kirchenfürsten, die gerade bei Hofe waren, wer der geeignete Nachfolger wäre, und wählten ihn. Meist war es dann doch ein naher Verwandter des Verstorbenen. Die erste Salbung eines angelsächsischen Königs, die aus dem Herrscher fast einen papstähnlichen Stellvertreter Christi auf Erden machte, ist im späten 8. Jahrhundert belegt, und kurz vor der Jahrtausendwende wurde eine Krönungsordnung festgelegt, die auch vorsah, dass der König und seine Untertanen einen Eid tauschten. Die Königinnen wurden übrigens nicht gekrönt – anders als auf dem Kontinent –, sondern quasi als Anhängsel mit auf den Thron gehievt.
Das bringt uns zur weiblichen Bevölkerungshälfte, die bislang fast unerwähnt geblieben ist. Es wird Sie bestimmt nicht wundern, wenn ich Ihnen erzähle, dass angelsächsische Frauen es nicht leicht hatten. Sie mussten den Kerl heiraten, den ihre Eltern aussuchten. Dann mussten sie auf dem Feld schuftenund ein Kind nach dem anderen bekommen. Schätzungen zur Lebenserwartung sind immer problematisch, weil es über die einfache Bevölkerung keine Aufzeichnungen gibt, aber gehen Sie mal getrost davon aus, dass höchstens die Hälfte dieser Frauen die dreißig erreichte. Das Leben war hart, jede Schwangerschaft ebenso lebensgefährlich wie jeder Winter und jede Infektion.
Trotzdem hatten die Frauen es in der angelsächsischen Epoche in mancher Hinsicht besser als später, was der vergleichsweise starken Position der Frau in der germanischen Tradition zu verdanken ist. So konnte eine Frau zum Beispiel eigenes Vermögen besitzen, und es gab adlige Damen, die steinreich wurden. So ist etwa das Testament einer adligen Witwe aus dem 10. Jahrhundert erhalten, die sage und schreibe sechsunddreißig Landgüter zu vererben hatte. Diesen Reichtum hatte sie ihrerseits großteils von ihrer Familie geerbt, aber nicht ihrem Mann überschreiben müssen, als sie heiratete. Auch die Kirche bot den Frauen Chancen – denken Sie nur an Hild, die Äbtissin, die die große Synode nach Whitby holte. In einer klösterlichen Gemeinschaft konnte eine Frau Bildung und, wenn sie wollte und klug genug war, Macht erlangen, wobei auch hier die einflussreichen Positionen meistens den adligen Damen vorbehalten blieben.
Ein wunderbares Beispiel für eine dieser klugen, einfallsreichen und begüterten Damen des angelsächsischen Adels ist Lady Godiva, die etwa um 990 geboren wurde und mit Leofric, dem mächtigen Earl of Mercia, verheiratet war. Viele Urkunden belegen ihren persönlichen Reichtum und ihre Freigiebigkeit vor allem gegenüber Kirchen und Klöstern. Eine Geschichte, für deren Wahrheitsgehalt ich keine Garantie übernehmen kann, erzählt, dass ihr Gemahl Leofric die Stadt Coventry eines Tages mit einer hohen Steuer belegen wollte, und Godiva ihn bat, von dem Vorhaben Abstand zu nehmen. Leofric erwiderte, er werde an dem Tag auf die Steuer verzichten, da Godiva nackt durch die Straßen von Coventry reite.
Godiva befahl daraufhin den Menschen der Stadt, in ihren Häusern zu bleiben, stieg nackt auf ihr Pferd, bedeckte ihre Blöße mit ihrem langen goldenen Haar und ritt, nur von zwei Wachen begleitet, durch die Straßen der Stadt. Zähneknirschend verzichtete Leofric auf seine Steuer.
Ein Denkmal der unbekleideten Reiterin in ihrem verhüllenden Haarmantel erinnert in Coventry noch heute an Lady Godiva, ebenso wie ein jährlicher Umzug. Und ein Preis, der Frauen auszeichnet, die sich für besonderes soziales Engagement international einen Namen gemacht haben, ist nach ihr benannt.
Übrigens: Die Legende erzählt, einer der Einwohner von Coventry habe Godivas Befehl missachtet und aus der Tür geschielt, als sie vorbeiritt. Sein Name war Tom. Die Strafe folgte auf dem Fuße, denn Tom wurde prompt mit Blindheit geschlagen. Und bis auf den heutigen Tag nennt man einen Spanner in der englischen Sprache
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