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Von Ratlosen und Löwenherzen

Von Ratlosen und Löwenherzen

Titel: Von Ratlosen und Löwenherzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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den Feldern der fremden Herren zu arbeiten. Die Wälder gehörten den Fremden mit einem Mal auch, sodass die Engländer dort nicht einmal mehr Holz und Eicheln sammeln durften, geschweige denn Wild oder Vögel schießen. Wer nicht spurte oder gegen eine der schwer begreiflichen neuen Regeln verstieß, wurde weggejagt oder verprügelt oder verstümmelt oder umgebracht. Die einfache Landbevölkerung war machtlos gegen die neue Obrigkeit und ihrer Willkür ausgeliefert.
    Bauern schuften unter der Aufsicht ihres Grundherrn.
    Aber viele Dinge besserten sich relativ schnell. Die Sprachbarriere zum Beispiel dürfte zwanzig, dreißig Jahre nach der Eroberung überwunden gewesen sein. Vielleicht dauerte es noch ein bisschen länger, bis der normannische Hochadel und die Bischöfe Englisch lernten (obwohl der gebildete König Henry I. und vielleicht auch sein Bruder Rufus es konnten), aber den linguistischen Brückenschlag brachte vor allem die adlige Mittelschicht zustande. Oder anders gesagt: die unlängst erfundenen Ritter. Diese oft jungen Männer bekamen von den Kronvasallen ein oder mehrere Landgüter als Lehen, wo sie lebten, wenn sie nicht mit ihren Lords im Krieg waren. Das heißt, so ein Ritter saß ziemlich weit weg vom normannischen Hof irgendwo in der englischen Einöde in einem strohgedeckten Holzhaus, und seine einzigen Nachbarn waren die englischen Bauern. Womöglich hatte sein Lord ihm nahegelegt, die Tochter des englischen Thane zu heiraten, dem dieses Gut vor ihm gehört hatte, und ein Ritter, der auf sich hielt, tat, was sein Lord ihm empfahl. Seine englische Frau brachte dem Ritter ein paar Brocken ihrer Sprache bei, genau wie umgekehrt. Ihre Kinder spielten mit den Bauernkindern zusammen und wuchsen zwangsläufig zweisprachig auf. Und so weiter.
    Zur Zeit des Bürgerkriegs zwischen Kaiserin Matilda und Stephen von Blois dürfte ein Großteil des adligen Mittelbaus schon in beiden Sprachen und Kulturen zu Hause gewesen sein. Ihre Freiheit und ihr Land bekamen die Engländer deswegen natürlich nicht zurück, aber die Menschen gewöhnten sich an die neuen Verhältnisse. Was ihnen 1071 noch so unerträglich erschienen war, dass sie sich scharenweise Herewards Widerstandsbewegung angeschlossen hatten, war schon Normalität, als der Bürgerkrieg ausbrach.
    Verhasst und gefürchtet blieben jedoch die Abgaben, die der Grundherr zusätzlich zur Pacht verlangen und in beliebiger Höhe festlegen konnte, etwa wenn ein Bauer heiraten wollte oder starb. Auch die Bußgelder, die er zum Beispiel für Versäumnisse bei der Fronarbeit verhängen konnte, waren berüchtigt.Das Problem war eben, dass es keine Instanz gab, die den Umgang der Grundherrn mit der Landbevölkerung kontrollierte, darum waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Was es aber nicht gab, obwohl so viele Leute glauben, es sei Bestandteil der mittelalterlichen Lebensrealität gewesen, ist das sogenannte »Recht der ersten Nacht«, das es dem Grundherrn bei der Eheschließung unfreier Bauern erlaubte, den Bräutigam in der Hochzeitsnacht quasi zu vertreten. Dieses Recht hat es in ganz Europa zu keiner Zeit gegeben, doch als Schauermärchen findet es sich bereits in der mittelalterlichen Literatur. Sexuelle Übergriffe waren trotzdem an der Tagesordnung, wie es immer und überall der Fall ist, wo Willkür herrscht.
    Die innere Stabilität unter Henry II., das Sich-Durchsetzen der Dreifelderwirtschaft und die Einführung des schweren Pflugs verbesserten die Lebensverhältnisse auf dem Land vielerorts. Mit den Erträgen der Felder begann auch die Bevölkerung zu wachsen. Und die zunehmende europäische Nachfrage nach englischer Wolle wirkte sich ebenfalls positiv aus; im Verlauf des zwölften Jahrhunderts wuchsen die Schafherden auf Englands Weiden stetig.
    Wer die Bevormundung durch die normannischen Herren trotzdem nicht aushielt, dem blieb immer noch, sich bei Nacht und Nebel davonzustehlen und in eine der ebenfalls wachsenden Städte zu ziehen. Das war natürlich eine Flucht ins Ungewisse, die in der Regel nur junge Männer ohne Familie wagten, denn sie barg die durchaus realistische Gefahr, spätestens im nächsten Winter zu verhungern oder zu erfrieren. Aber wer ein Jahr und einen Tag ausharrte, der war kein Leibeigener mehr, denn »Stadtluft macht frei«.
    London wuchs wieder einmal schneller als alle anderen Städte, denn es zog nicht nur Engländer, sondern auch Kaufleute aus der Normandie, aus Köln, aus Norddeutschland und Skandinavien an, die

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