Von Ratlosen und Löwenherzen
sich dort niederließen. Aber auch York, Sitz des nördlichen Erzbistums, entwickelte sich im 12. Jahrhundert zu einem kulturellen und städtischen Zentrum, undTuchmacherstädte wie Beverley oder Lincoln profitierten vom königlichen Straßenbau und wurden steinreich. Zinn- und Bleivorkommen wurden erschlossen und ausgebeutet, und beide Metalle wurden Exportschlager.
Doch die rasanteste Entwicklung des 12. Jahrhunderts fand in kultureller Hinsicht statt, weswegen man verwirrenderweise auch von der »Renaissance« des 12. Jahrhunderts spricht, obwohl die richtige Renaissance doch eigentlich erst kam, als das Mittelalter zu Ende ging. Diese kleine Renaissance des 12. Jahrhunderts wurde vor allem durch die Kreuzzüge ausgelöst, denn auch wenn die christlichen Ritter ja ausgezogen waren, um alle »Heiden« zu erschlagen, waren sie nicht immer schnell genug und konnten nicht verhindern, mit der islamischen Bildung und Kultur in Berührung zu kommen, die der europäischen haushoch überlegen waren. So fanden etwa Schriften des großen griechischen Philosophen Aristoteles, die im christlichen Kulturkreis unbekannt waren, auf diesem Umweg Eingang in die mittelalterliche Philosophie und Wissenschaft. Auch viele andere Bereiche, von der Dichtkunst über die Medizin bis hin zur Buchführung, entwickelten sich durch den islamischen und jüdischen Nachhilfeunterricht, dem die Kreuzfahrer sich unwissentlich aussetzten.
Ein regelrechter Bildungs- und Kulturboom setzte in ganz Westeuropa ein. Plötzlich hielt jeder Ritter, der das Alphabet beherrschte, sich für einen Dichter. Manche hatten sogar Recht, und sie verfassten eine schier unglaubliche Zahl von Gedichten und Liedern und Versepen über Gott und die Welt, über Kreuzzüge und Ritterehre und vor allem über Frauen und die Liebe (die in Deutschland minne hieß). Die ersten literarischen Werke dieses Booms in englischer Sprache kamen allerdings mit einiger Verspätung und ziemlich vereinzelt erst im 13. Jahrhundert auf, denn wer zu dieser Zeit in England dichtete, tat es auf Französisch oder Lateinisch.
Aber das bedeutete nicht, dass das Land von all den aufregenden geistigen Neuerungen unberührt blieb. Nachdem dieBenediktiner bislang der einzige Orden gewesen waren, kamen mit einem Mal andere Mönche nach England, die sich Zisterzienser nannten, noch viel strenger waren als die Benediktiner und Landstriche erschlossen, wo kein normaler Mensch leben wollte, weil sie so abgeschieden und unwirtlich waren. Aber diese Zisterzienser kultivierten diese Gegenden und vermehrten die Ackerflächen in England nicht unbeträchtlich. Dann kam ein gewisser Gilbert of Sempringham auf die Idee, einen eigenen Orden zu gründen, den es nur in England gab, nämlich die Gilbertiner. Das Besondere an den Gilbertinern war, dass Männer und Frauen in diesem Orden gemeinsam in Doppelklöstern lebten. Offiziell in getrennten Gebäuden, aber ob die Türen immer verriegelt waren, weiß natürlich keiner. Egal – im 12. Jahrhundert war fast alles möglich. Und dann entstand eine ganz neue Art von Orden wie die Templer und die Johanniter, die mehr mit Kampf und Rittertum zu tun hatten als mit Gebet und Einkehr, und auch sie gründeten Niederlassungen in England.
Die allgemeine Gier nach Bildung, die plötzlich viel mehr Menschen erfasste als je zuvor, konnten die Kloster- und Kathedralschulen, die es schon aus angelsächsischer Zeit gab, allein nicht mehr stillen. Vielen der neuen Bildungsfreunde war das dort vermittelte Wissen auch zu verstaubt; sie wollten etwas Neues. Und so zogen bald reisende Gelehrte durchs Land, stellten sich vor die erstbeste Kirchentür und fingen an, die sieben Freien Künste zu lehren (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie), die eine Art Grundlagenwissen darstellten, oder darauf aufbauend lehrten sie Theologie, Medizin und Rechtswissenschaften. Aus diesen improvisierten Lehrveranstaltungen entwickelten sich nach und nach feste Schulen, und die Schule in Oxford hatte bald einen herausragenden Ruf.
Es gab allerdings gelegentlich Streit zwischen den Studenten und Magistern auf der einen Seite, der Stadtbevölkerung auf der anderen Seite. Die braven Bürger von Oxford fanden,die Studenten soffen zu viel, waren vorlaut und machten Lärm und hatten die Privilegien überhaupt nicht verdient, die der König ihnen einräumte. Nach einer besonders heftigen Keilerei mit den Stadtbewohnern hatten ein paar der Scholaren und Magister die Nase
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