Von Ratlosen und Löwenherzen
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Der König von Frankreich hingegen (der nicht persönlich erschienen war) hatte wieder einmal die Blüte seines Adels verloren: zwei Herzöge in Gefangenschaft, drei gefallen, ein gutes Dutzend Grafen, tausendfünfhundert Ritter und vier- bis fünftausend einfache Soldaten.
König Henry, seine Brüder, Lords, Ritter und Bogenschützen hatten eine ganz simple Erklärung für dieses Wunder: Es war Gottes Wille.
Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss allerdings erwähnt werden, dass sie der göttlichen Willensfindung ein wenig nachhalfen: Kurz vor dem Ende der Schlacht hatte Henry den Befehl gegeben, alle französischen Gefangenen zu töten. Möglicherweise hatte ein Teil der französischen Kavallerie den Wald umrundet, drohte Henry nun in den Rücken zu fallen oder den Tross mit den Verwundeten, Geistlichen und Knappen zu überfallen, und Henry fürchtete, sie könnten die Gefangenen befreien, wieder bewaffnen und so das Ruder noch mal herumreißen. Was auch immer seine Gründe gewesen sein mögen, es war eine Tat, die selbst im rauen 15. Jahrhundert als höchst unritterlich galt. Hätte es den Begriff »Kriegsverbrechen« damals schon gegeben, wäre die Ermordung der Gefangenen eines gewesen.
Aber dieser kleine Makel ging im Siegestaumel schnell unter. England bejubelte seinen siegreichen König, als er 1416 heimkehrte, aber der siegreiche König ruhte sich nicht lange auf seinen Lorbeeren aus.
1417 kehrte er in die Normandie zurück, die er bis 1419 komplett eroberte. Das war ein hartes Stück Arbeit, zumal Henry nicht wollte, dass seine Truppen das Land wie in der Vergangenheit überrannten und ausplünderten. Er wollte vielmehr, dass die Normannen ihn ins Herz schlossen und als ihren rechtmäßigen Herzog bzw. König anerkannten. Also belagerte er mühsam Stadt um Stadt, Burg um Burg, und eine nach der anderen fiel.
Unterdessen verhandelte sein Onkel, Bischof Beaufort von Winchester, mit Burgund und den Vertretern des Königs von Frankreich. Das war alles andere als einfach: Der König von Frankreich, Charles »Le Fou«, litt an periodischem Wahnsinnund war oft monatelang nicht ansprechbar. Das hatten die mächtigen Herzöge von Burgund und Orléans ausgenutzt, um nach der Macht zu greifen und jahrzehntelang um die Vorherrschaft zu ringen. Als Orléans bei Agincourt in Gefangenschaft geriet, übernahm der Dauphin – der französische Thronfolger – die Führung seiner Partei.
England hatte über die letzten Jahrzehnte versucht, mal mit der einen, mal mit der anderen Seite ein Bündnis zu schließen, aber die beiden verfeindeten französischen Parteien wurden sich nie so richtig schlüssig, ob sie sich nicht vielleicht doch lieber zusammenraufen und ein Bündnis gegen England schließen sollten.
Um genau darüber zu verhandeln, trafen der Dauphin und der Herzog von Burgund sich am 10. September 1419 auf einer Brücke bei Montereau. Ehe irgendwer die Verhandlungen eröffnen konnte, hob einer der Männer des Dauphin die Streitaxt und spaltete Burgund den Schädel.
Damit hatten die Verhandlungen sich erledigt.
Der Sohn und Erbe des erschlagenen Herzogs war verständlicherweise zutiefst verbittert über diesen feigen Mordanschlag auf seinen Vater. Allein konnte er ihn nicht rächen, und weil es sonst niemanden gab, an den er sich wenden konnte, bat er Henry von England um Hilfe gegen den Dauphin. Die Königin von Frankreich sagte sich endgültig von ihrem Sohn los, den sie sowieso nicht ausstehen konnte, und der wahnsinnige König wurde nicht gefragt. So kam es, dass Burgund und die Königin 1420 mit Henry von England den Vertrag von Troyes schlossen: Der Dauphin sollte enterbt werden. König Henry sollte dessen Schwester Katherine heiraten. Der kranke Charles sollte dem Titel nach bis an sein Lebensende König von Frankreich bleiben, aber Henry erst sein Regent, dann sein Nachfolger werden, die Krone an seine und Katherines Nachkommen übergehen.
Geschafft!, jubelten die Engländer. Wir haben erreicht, wofür dieser Krieg begonnen wurde.Es bestand nur noch das kleine Problem, dass der Dauphin von all diesen schönen Plänen nicht sonderlich begeistert war, und südlich der Loire hatte er die Macht. Dann müssen wir ihm die Macht eben entreißen, beschloss Henry kurzerhand.
Erst einmal heirateten er und Katherine am 2. Juni 1420 in der Kathedrale von Troyes, und am 1. Dezember zog der König von England mit seiner französischen Gemahlin im Triumph als Regent von Frankreich in Paris ein. Wie selig
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